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Schmutzige

Sehnsüchte,

finstere

Phantasien






Düstere Abgründe tun sich auf in Jonathan Littells Roman Eine alte Geschichte. Neue Version (2019) und in Christoph Geisers Erzählband Verfehlte Orte (2019), auch wenn es bei ihnen um erotische Sehnsüchte geht. Begehren und erfüllende Befriedigung wird hier meist auf verstörende Weise mit Verderbnis, Vergänglichkeit oder Vergeblichkeit in Verbindung gebracht. In einem Spiel mit Identität erproben namenlose Erzähler sich in erotischen Sehnsüchten. Sie werden überwältigt von Gier und lieblosen Geschmacksverirrungen. Provokant brechen beide literarische Werke teils mehr schlecht als recht mit moralischen Tabus. Die kontroverse Prosa der beiden Autoren irritiert und erzeugt Unbehagen. Es sind keine herkömmlichen Altherrenphantasien, die hier bedient werden.

* *

Der 70-jährige Schweizer Schriftsteller Christoph Geiser schreibt in Verfehlte Orte eigenwillige Erzählungen über bekannte Friedhöfe und Tatorte. Geisers thematisch verwandte Prosatexte führen an unterschiedliche Schauplätze. Er schreibt assoziationsreich, mit vielen Abschweifungen, verschlungenen Bandwurmsätzen und Gedankensprüngen. Er setzt zahlreiche Anspielungen und zitiert Werke der Weltliteratur, etwa auch Verweise auf die antike Knabenliebe. Bei Geiser geht es um das unbeständige und oft auch ziellose Umherirren aber auch allgemein ein bisschen um die eigene Verlorenheit. Möglicherweise wählt der Autor gerade deswegen statt der Ich- die Wir-Perspektive, obschon er doch aus der Sicht nur einer Person erzählt. In den Erzählungen passiert augenscheinlich wenig. In Die Toten von San Michele arbeitet sich der Erzähler sehr über das verwirrende Wegenetz Venedigs ab. Nicht nur hier agiert die Erzählinstanz überwiegend passiv, ergeht sich jedoch in sinnlichen Phantasien.

Die zweite Geschichte des Bandes, Der Neandertaler von Darmstadt, handelt von musealen Kunstwerken, die das eigene sexuelle Begehren anregen oder auch symbolisieren. Auch in seiner Erzählung Carlchen – oder: Das Balkonzimmer fließen prägnante Beschreibungen von Bildern mit ein, die der Erzähler in Museen eingehend betrachtet. Hier geht es etwa um die Bilder „Das geheime Fieber“ und „Der Baumeister“ von Adolph von Menzel (1815-1905), einen vermutlich homosexuellen deutschen Künstler. Die Darstellung eines Jünglings sticht in einem Bild illuster hervor, und ihr wird lustvoll in Beschreibungen nachgegangen. Geisers teils schwer verständlichen, schwermütigen und exzentrischen Geschichten werden getragen von der Melancholie des Alters. Erst gegen Ende provoziert der Erzählband.

In der 50-seitigen und somit längsten Erzählung des Bandes, Step by Step, geht es um ein unfassbares Sexualverbrechen: In Rupperswil wurde ein Täter des Vierfachmordes an einer Familie verurteilt. Der Erzähler besucht Rupperswil zur Zeit der Verhandlung gegen den Mehrfachmörder. Zunehmend nimmt die Erzählfigur die Sicht des Täters ein, der in Rupperswil einen 13-jährigen Jungen vergewaltigte und in Folge dieses Verbrechens ihn, seinen Bruder, die Freundin seines Bruders und seine Mutter tötete. Der Erzähler versucht sich in den Täter einzufühlen und hängt dabei auf höchst verstörende Weise eigenen pädophilen Neigungen und Tagträumen nach:


„Nähmen wir den Jungen aufs Zimmer, ins Bett, nähmen wir ihn oder er uns? Gäbe er sich (hin), von der Alterskonstellation her wäre nur dies allenfalls möglich, bäuchlings, wenn wir das Licht löschen? Schenkelverkehr?! Dürften wir an ihm herumspielen, im Dunkeln, bis es uns den Atem verschlägt, bestenfalls gleichzeitig? Kuscheln müssten wir uns aneinander, und zwar sehr eng, denn nur die eine Hälfte des Doppelbettes ist bezogen für uns, sparsam und umweltbewusst, wie man hier ist, und das Kuscheln wäre gut gegen die Angst … den zerbrochenen Schlaf … die Träume … Angst vor Rupperswil?!“ (S. 160)


Dem Reiz des Verbotenen wird hier nachgehangen. Die beschriebenen Phantasien sind schon für sich alleine und umso mehr angesichts des realen Verbrechens höchst problematisch und zu verabscheuen. Indem Geiser das Verbrechen mit den erotischen Kunstwerken der vorangegangenen Erzählungen in einen Zusammenhang stellt, überhöht er die grausame Tat und relativiert sie auch, was er jedoch durchaus auch als künstlerische Provokation verstanden wissen möchte:


„Die Schlange der Erbsünde, die berühmte Muhme des Satans, Mephistos Begleiterin. Die Bestie von Rupperswil? Schlangen hier, wenn es denn welche gibt, sind ungefährlich.“ (S. 164)


Bewertung:    



Auch der 52jährige, amerikanisch-französische Autor Jonathan Littell ergeht sich in Eine alte Geschichte in grenzwertigen und unheilvollen Phantasien. Die namenlose Ich-Figur seines 333-seitigen Romans springt zu Anfang und gegen Ende eines jeden der sieben Kapitel in ein Schwimmbecken. Die Geschichten beginnen und enden somit ähnlich. Der Ich-Erzähler schüttelt zusammen mit dem Wasser kraftvoll die Schrecknisse des Erlebten ab. Die Kapitel folgen alle einem Muster. Einzig der Ich-Erzähler wechselt vielfach sein Geschlecht und seine sexuelle Orientierung.

Eine alte Geschichte handelt auf surreale Weise von Sex und Gewalt, menschlichen Trieben und Abgründen. Der Ich-Erzähler bewegt sich traumverloren durch dunkle Gänge. Er ist sich nicht bewusst, warum er diese Orte besucht, die mal ein Schlachtfeld, mal eine Orgie sein können. Explizite Beschreibungen sexueller Praktiken und Rollenspiele wechseln mit detaillierten Bildern von Krieg, Terror und Bürgerkriegsszenarien. Denn es kommt auch auf den feuchtfröhlichen Gangbangs alsbald zu Vergewaltigungen, brutalem Mord- und Totschlag. An den Kriegseindrücken und Massakern ist der Ich-Erzähler jedoch auch nicht ganz unschuldig, so erschießt er schon einmal kaltblütig eine junge Mutter:


„Ich gab ihr ein paar Schritte, bis sie in Gänze sichtbar war, und verpasste ihr dann eine Kugel zwischen Hals und Kiefer. Sie flog nach hinten, ließ die Hand des Kindes los und landete zusammengekrümmt auf dem Boden, das Gesicht in einer Pfütze. Der Junge wurde bleich, stürzte sich auf sie und versuchte, sie zu ziehen, das kleine Gesicht von der Anstrengung verzerrt.“ (S. 184)


Der Ich-Erzähler ist jedoch nicht nur ein Täter, den meist zu spät Gewissensbisse plagen. Oft ist er auch Opfer. Immerhin wird dann doch nicht alles beschrieben und einiges gottseidank ausgespart:


„Widerstand zu leisten hätte nichts gebracht, ich versuchte es nicht einmal. Dann taten sie mir Entsetzliches an; aber davon will ich nicht erzählen.“ (S. 290)


Die grausamen Bilder sind insgesamt schwer erträglich und ergeben trotz einiger kunstvoller Leitmotive, wie einer Flut wiederholt auftauchender Ameisen, selten eine sinnstiftende Lektüre.

Bewertung:    


Ansgar Skoda - 29. Oktober 2019
ID 11765
Verlagslink zu Verfehlte Orte

Verlagslink zu Eine alte Geschichte. Neue Version


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