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Rezension

Lesen im Urlaub >>> Anne Enright, Anatomie einer Affäre







Die Frage klingt nach Soap: Gibt es verbotene Liebe? Man könnte diese Kalamität ignorieren und behaupten, der Roman Anatomie einer Affäre von Anne Enright wagt den Versuch einer unumwunden positiven Antwort. Ginas Liebhaber Seán würde die Frage wohl verneinen. Gina selbst denkt zu Beginn ebenso, im Laufe der Handlung jedoch dämmert ihr, welche Bedeutung Seáns neunjährige Tochter für ihre Beziehung hat sowie seine Ehefrau, die für Gina eine Mauer darstellt, die „am Rande ihres Bewussteins verlief.“ Immerhin, könnte man behaupten, die Angelegenheit ließe sich wenigstens auf Augenhöhe diskutieren, sofern man in der Fragestellung bereits einen Gran Skrupel heraushörte, was gemessen an den moralischen Standards unserer Zeit in manchen Ohren bereits als die Machenschaft eines agent provocateur klingen dürfte.

Vielleicht ist Enrigths These aber auch allzu eingängig für die einen und für die anderen schlichtweg zu eilfertig. Von einer „Anatomie“ zu sprechen jedenfalls ist triftig, geht es doch dieser Schriftstellerin um nichts anderes als um die Bloßlegung der trivialen Allerweltsstrukturen des Verliebtseins und seiner Kollateralschäden. Dabei ist eine eheliche Affäre durchaus ein „Klassiker“, will sagen: Enright erzählt von einer stinknormalen Liebe und es endet natürlich in Relativismus, Einsamkeit und Schuld.

Gina, die Geliebte Seáns, ist die launische Ich-Erzählerin dieses durchaus munter geschriebenen, an lustvollen und interessanten Details kaum geizenden Romans. Sie ist ihrerseits mit Connor verheiratet, wobei eine gewisse konservative Schlagseite in ihrer Beziehung kaum zu verleugnen ist. Aber doch lieben sie sich. Schlicht gesagt: Von Anfang an geht es in dieser Ehe um Kapital: Werte, die man buchstäblich anlegt, seien es materielle oder ideelle. Nun sage man nicht, unter diesen Umständen sei eine Affäre wahrscheinlich. Das Ende vorhersehbar. Bereits unsere Großeltern wussten, dass die Ehen, die von echter Liebe unterspült werden, leichter zu fluten sind und in den Gezeiten untergehen als die Partnerschaften auf Trockendeck, die auf dem festen Grund einer nüchternen Hingezogenheit basieren. Gina spielt nicht nur tatsächlich mit jenem Gedanken, all den Exkrementen der ehelichen Sippenhaft, den Schwiegerleuten, den täglichen Verpflichtungen, jenen sterbenslangweiligen Routinen der Ehe, ein für alle mal zu entspringen. Welch verführerisches Irrlicht die Freiheit doch ist! Die Droge unserer Zeit.

Als Schlachtfeld dieserart Freiheiten bewährt sich einmal mehr der nüchterne Arbeitsplatz. Originell ist das nicht, aber wer hat behauptet, dass die Liebe originell oder geistreich sein muss? Wenigstens ist Gina nicht nur als Frau verführerisch, sondern vor allem als Romanfigur, denn ihr Bericht strotzt nur so von unsauberen Schlussfolgerungen, unberechenbaren Bemerkungen und verlogenen oder zumindest oberflächlichen Aussagen. Gina ist ihrer ganzen Anlage nach keine Frau, die diese Affäre durchstehen könnte ohne die Liaison mit Seán als neue große Liebe zu beschwören. Sie kann nicht anders und sie wird nicht anders. Lüge ist in gewisser Weise das Fluidum, in dem sie und Seán atmen. Um sich selbst und ihre Tat zu rechtfertigen, wäre für sie eine bloße Liebelei natürlich inakzeptabel, will sagen: Wenn Gina schon betrügt und Ehe und Familie zerstört, dann muss die atemberaubende Größe einer neuen Liebe als moralische Entlastung dienen. Sie hätte schlicht und ergreifend nicht das Format, vor sich selbst einzugestehen, dass Vergnügungssucht und Abenteuerlust sie dazu trieben, Connor zu verlassen.

Sprechen wir noch von dem heiklen Punkt der ganzen Story! Sprechen wir von Evie, Seáns Tochter, die er abgöttisch liebt. Sie leidet unter Epilepsie, sie muss unter ständiger Beaufsichtigung sein – der Inbegriff des Kindes, denn welches Kind muss das nicht? Das Patchwork jedenfalls klappt nicht, Seán macht Anstalten und verbleibt doch im Krebsgang. Der notorische Don Juan frühstückt auch Jahre später noch zu Hause und Gina schwant irgendwann, dass es immer unvollendet bleiben wird. Genau das aber wollte sie. Genau das wollte sie nicht. Also was? Die Gebundenheit der Ungebundenheit. Selbst die störrische Gina wird eines Tages einsehen, dass sie zwei unvereinbare Dinge wollte. Doch das wird sie vor sich selbst nie zugeben. In Seán wird sie immer den Reiz, nie aber die Heimat finden. Und deshalb wird Seán sie mehr definieren als Connor, der eine Heimat bedeutete, die sie für immer verloren hat. Auch ihre Bemühungen um Evie bleiben letztlich erfolglos. Gina selbst kennt die Wahrheit und kleidet sie in einen kleinen Satz, der es faustdick hinter den Ohren hat: „Wer Liebe stiehlt, der muss sich darüber klar sein, von wem er sie nimmt.“ Der eine schenkt Sonnenblumen, der andere Rosen.

Bleibt die Frage, ob es etwas in der Welt gibt, das wichtiger als die Liebe ist? Am Ende des Romans ist man geneigt zu sagen: Natürlich! Vieles! Doch schon regen sich die Gemüter, recken sich die Finger! Sagen wir also: Jedenfalls ist die verbotene Liebe kein Unfall der Ehe. Der Unfall besteht vielleicht in dem Glauben, dass man Liebe vor den Kopf stoßen darf, um sich selbst zu ergötzen. Wenn die Liebe nur das wäre: ein Gefühl, dann wäre es vielleicht erlaubt - aber nur dann! Fest steht am Ende des Romanes aber auch, Abenteuer zu meiden, wäre ein miserabler Rat. Früher oder später würde man der Versuchung ohnehin erliegen. Die Lösung muss eine andere sein.

Gina kann am Ende die Füße nicht still halten und ist mit jenem typisch weiblichen Überlebensinstinkt ausgestattet, der es ihr ermöglicht, über Katastrophen hinweg zu kommen, während Seán ungerührt neue Liebschaften pflegt. Nicht zuletzt das Lustprinzip wird sie neuen Männern und Affären zutreiben. Am Weihnachtstag ist sie allein und versteht das alles zum ersten Mal. Seán lässt es sich indessen gut gehen. Auch Ginas „wohlverdiente Kopfschmerzen" werden eines Tages vorbei sein. Für Connor jedoch gilt diese positive Prognose nicht. Zu jeder guten Geschichte gehören eben Täter und Opfer. Die eingangs gestellte Frage wäre damit beantwortet.

Jo Balle - 6. November 2012
ID 6329
Anne Enright: Anatomie einer Affäre
Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser DVA, 2011
308 S., gebunden
19,99 €



Siehe auch:
http://www.randomhouse.de/dva/index.jsp


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