Schostakowitsch
auf Raten
GOTTFRIED EBERLE las Briefe des Vertrauens
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Das sind Iwan Sollertinski und Dimitri Schostakowitsch | Bildquelle: Wikipedia
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Über ein Buch schreiben, das es noch gar nicht gibt, regte mich ein Abend im „KOHTAKTbI-Domizil“ an, wo der bekannte Berliner Musikwissenschaftler und Musiker Gottfried Eberle am 29. April Briefe des Vertrauens vortrug, nämlich Briefe, die Schostakowitsch an seinen Freund Iwan I. Sollertinski geschrieben hatte. Sollertinski, Romanist, Theater- und Musikkritiker, schließlich Künstlerischer Direktor der Leningrader Philharmonie, der um die 25 Sprachen beherrschte, war über lange Jahre der engste Vertraute des sowjetischen Komponisten Dimitri D. Schostakowitsch. Und so erleben wir diesen hier ungewöhnlich offen und intim. Vom Geist des vier Jahre älteren Freundes und Universalgenies Iwan Iwanowitsch kann man sich in der Textsammlung Von Mozart bis Schostakowitsch überzeugen, der 1979 im Reclam-Verlag Leipzig erschien. Hingegen sind Briefausgaben Schostakowitschs überhaupt noch nie in deutscher Sprache erschienen. Umso erfreulicher und verdienstvoller diese ersten Kostproben in einer Lesung. Ein Schostakowitsch auf Raten gewissermaßen: Gottfried Eberle selbst hat sämtliche 2006 in Russland edierten (und längst vergriffenen) Briefe des Komponisten an Sollertinski übersetzt und für die Veröffentlichung vorbereitet – das Manuskript liegt nun bei seinem Verlag, und wir harren gespannt der Dinge.
Denn diese Lektüre ist nicht nur für die Erinnerung an Sollertinski aufschlussreich – es eröffnet auf Schostakowitsch einen ganz neuen Blick. Wenn wir ihn bislang vor allem aus dem Klanguniversum seiner Werke und den Artikeln kennen (Schostakowitsch, Erfahrungen, Leipzig 1983), so als Person nur von groben alten Schwarzweißfotos. Doch hier, in diesen Briefen, springt er uns quasi wie aus brillanten Farbfilmen entgegen: quicklebendig, geistsprühend, von umwerfendem Humor, genussvoll, ironisch, sinnlich, zutiefst aufrichtig und menschlich bis allzumenschlich. Schostakowitsch war hochbelesen, sein Stil ist am Witz Gogols geschliffen und zeigt den Musiker literarisch brillant. Seine Briefe (offenbar sind Sollertinskis Schreiben leider komplett verloren gegangen) modellieren ein viel differenzierteres Schostakowitsch-Bild, als es die allzumeist einseitigen Vereinnahmungen der Schostakowitsch-Literatur suggerieren. Nein, er erscheint, trotz furchtbarer Erfahrungen, weder als das Opfer eines willkürlichen „Regimes“, noch als der „Dissident“, den gewisse Schreiberlinge aus ihm zu zaubern versuchen – und der er, bei aller Kritik und allem Sarkasmus, auch nie sein wollte… Zwischen realexistierenden Nöten, Zwängen, Konflikten und der brutal dramatischen Lage der jungen bedrohten Sowjetunion, der er zeitlebens treu blieb, konnte dieses Genie offenbar besser unterscheiden, als etwa der Fälscher seiner vorgeblichen „Memoiren“ Wolkow und dessen Gefolgschaft.
Des Komponisten Briefe kommen aus einer ganz anderen Geistesregion als jener Bestseller. Allein Schostakowitschs Schilderung einer sich bis ins schier Absurde schraubenden Dialog-Szene mit dem Theaterregisseur Meyerhold ist von umwerfender Komik. Gottfried Eberle gestaltete sie mit sicherer Bravour, und es gelang ihm fesselnd, in seiner Auswahl den Bogen vom Beginn bis zum tragischen Ende der Freundschaft zu schlagen. Eberle, der einst mit einer Studie über Alexander Skriabin promovierte und von 1965 bis 1982 selbst Musikkritiker beim Berliner „Tagesspiegel“, sowie von 1975 bis 1995 Musikredakteur bei RIAS Berlin/ DLR war, konzertierte auch als Liedbegleiter im In- und Ausland – und so spielte er Ausschnitte aus erwähnten Kompositionen Schostakowitschs am Flügel selbst vor, beginnend mit einem Prelude des 15jährigen – also aus der Zeit, als sich die beiden Genies am Leningrader Konservatorium begegneten – bis zu jenen Klezmer-Klängen, die Schostakowitsch seinem musikalischen Nachruf auf den zu früh Verstorbenen einwob, dem e-moll-Klaviertrio. Das letzte Schreiben, das Sollertinski von ihm erhielt, lautete so:
„4.1.1944. Moskau. Lieber Iwan Iwanowitsch. Ich beglückwünsche Dich zum Neuen Jahr. Ich bin überzeugt, dass uns allen das Neue Jahr die Freude des Sieges bringt und den Eintritt eines gerechten und langen Friedens in der ganzen Welt. Unlängst erhielt ich einen Brief von Tamara Iwanowna Brjanskaja. Sie teilt mit, dass ihr Mann, unser Freund Juri Grigorjewitsch Brjanski, den Heldentod gestorben ist im Kampf für unsere sowjetische Heimat. Das ist eine traurige Nachricht. Ich liebte J.G.Brjanski und er rechtfertigte meine Liebe: er ist in Ehren gefallen, gab sein junges, schönes Leben für unsere sowjetische Heimat.“
(Danke, Gottfried Eberle!)
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Olaf Brühl - 4. Mai 2016 ID 9294
Weitere Infos siehe auch: http://www.kontakte-kontakty.de
Post an Olaf Brühl
http://www.olafbruehl.de
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