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Lesung

Von Bravo bis Porno

Andreas Maier über eine Kindheit und Jugend in der schönen Wetterau


Das ist Andreas Maier bei seiner Lesung am 28. Februar 2014 im Berliner Brecht-Haus - Foto (C) Jamal Tuschick

In Cormac McCarthys Roman Die Straße führt die Sache im Titel zu einem toten Meer. Es wäre für jeden besser tot zu sein in der postapokalyptischen Welt, die McCarthy dem Leser entdeckt. Andreas Maiers Roman Die Straße spielt vor der Apokalypse. Seine Straße identifiziert sich als Magistrale der Wetterauer Kreisstadt Friedberg. Die Wetterau ist Maiers Herkunftslandschaft und ein Revier der Lieblichkeit. Römer bauten da Bäder. Das tiefe Hessen war ihnen unheimlich, aber in der weich gezeichneten Prärie vor Frankfurt am Main schienen Land und Leute bezähmbar. Die Römer sprachen schon von Hessen, insofern sie von Chatten sprachen. So nannten sie die nördliche Bevölkerung, die immer wieder, von Fritzlar via Alsfeld und Schotten kommend, über die Besatzungsmacht hereinbrach und gegen den Limes trat, dass der Zaun wackelte wie ein Milchzahn. In Maiers Wetterau werden die Römer von Amerikanern gespielt. Als Sieger sind sie Hessinnen hoch willkommen. Maiers Held heißt Andreas, und egal, wem man zuhört, es geht in der Straße um Andreas und seine zwischen Bad Nauheim, Friedberg und Frankfurt oszillierende Familie. Die Begeisterung für Sieger übernimmt in der eingesessenen Sippe Andreas’ Schwester. Der Autor zählt Leidenschaften der Verwandten auf, in einer ungeheuren Aufzählung. Der diskrete Charme der Bourgeoisie ist anders.

Maier listet Kleiderbügel, Füllfederhalter und Bleistifte als Penetrationshilfen der Schwester im Berliner Brechthaus. Gerrit Bartels ergänzt den Autor. Der Journalist ahnt Mysterien des Wäldchestages als einer Frankfurter Angelegenheit ohne Beispiel in der Welt. Plötzlich fährt der Geist von Friedrich Stoltze aus Maiers Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Er geriert sich, garstet gar: „Es will merr net in mein Kopp enei: wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“

Das ist auch schwer zu verstehen. Die Straße setzt eine auf elf Bände angelegte und nun im dritten Band angekommene Reise ans hessische Ende der Nacht fort. Man hat das Unternehmen mit Prousts Suche nach der verlorenen Zeit verglichen und Maiers Andreas soziophob genannt und sich in Friedberg auch noch ganz anders zu diesem und jenem geäußert. Meine Nichte aus Florstadt bezeichnete die Straße als „provinziell-präpubertäre Problempoposse“ und übersah indes, Stichwort Provinz, dass Friedberg für sie schon eine große Stadt „voller Fremder“ ist.

Als Generalanzeiger dient dem werdenden Werk der Hinweis „Ortsumgehung“. Das ist ein Wort aus der Bonanza-Zeit. Es bringt einen zum Zug nach Nirgendwo und von Bravo nach Porno. „Problemandreas“ kommt allgemein nicht gut an. Allein seine Schwester interessiert sich für Andreas’ anatomische Andersartigkeit. Es reifen die Pickel der Pubertät in einer sexualisierten, ihre Aufladungen aber bürgerlich verschweigenden Umgebung. „Für die Sexualwelt gab es keine Sprache“, sagt Maier.

Die Schwester und ihre Freundinnen veranstalten private Modenschauen, sie ziehen den jüngeren Bruder heran. Sie hüten sich davor, von Erwachsenen überrascht zu werden. Immer wieder sagen sie: „Ist das eklig.“ So beschreiben sie etwas, dass sie ebenso anzieht wie abstößt.

Maier glaubt, dass er, „jüngerer Bruder“ einer pubertierenden Schwester, typisch zu seiner Rolle fand – als angelernter Voyeur und Gegenstand von Untersuchungen geschlechtlicher Unterschiede. Einen anderen Andreas hätten die Vorgänge hinter Vorhängen initiiert, aber dieser Andreas weiß nicht, was soll das bedeuten. Er sucht nach Erklärungen. Endlich erreicht ihn die Idee, vertrackte Absichten lägen hinter den Verschleierungen. Später wird die Schwester von „Doktorspielen“ und „Entwicklungsstufen“ reden und mit den Begriffen ihre unbedachte Vergangenheit einhegen. Es wird für sie so sein, wie nie gewesen. Andreas rennt dagegen an, er stürmt die Selbstgewissheit der Schwester. Er reicht ihre „Einsteckwünsche“ nach. Ihr reicht „Entwicklungsstufe“ als Erklärung. Das Selbstbewusstsein zuckt mit den Achseln. Maier schreibt: „Als wären sie (die Schwester und ihre Freundinnen) früher nie sie selbst gewesen, sondern nur eine Entwicklungsstufe.“

Der Roman nahm seinen Anfang in Erinnerungen an einen amerikanischen Austauschschüler, der in Friedberg weitergereicht wurde. Das Gerücht wollte etwas „von Missbrauch“ in der ersten Gastfamilie wissen. Maier suggeriert, dass in seiner Kindheit und Jugend alles Mögliche kurz vor Missbrauch gewesen sein könnte. Die Art wie Väter die Freundinnen ihrer Töchter berührten, die Ansprachen diverser „Altstadtmänner“, das Liebesbedürfnis der Mutter.

Die Odenwaldschule in der Wetterau – Im Brechthaus nennt Bartels Die Straße „ein unversöhnliches Buch“. Maier meldet die ständigen Warnungen „vor fremden Menschen“. Vor der eigenen Familie habe einen keiner gewarnt. Andreas fürchtet „ein Gesamtverschlingen seiner Person“ von „schwarzen Männern“, die ihn „anlocken, so wie man Enten mit Krumen lockt“. Die Ursache des Bösen: das ist in der Friedberger Kinderwelt der Siebziger „der schwarze Mann“ – „der kollektive deutsche Bewusstseinsneger. Die Idealhorrorfigur vom Reißbrett.“

„Als Traumneger“
organisiert er die Beunruhigung noch im Schlaf. Ich erinnere mich nicht an Maiers Popogeschichten, aber ich erinnere mich an den schwarzen Mann, „und wenn er kommt, dann laufen wir“. In den Turnstunden des Andreas, in einer vollkommen verratzten Halle mit einer Sprossenwand und sonst keinem Gerät, wird stets einer „zum schwarzen Mann bestimmt. Er musste so viele Kinder wie möglich fangen.“

Kriminelle können mit dem schwarzen Mann nicht Schritt halten, so weit es um ihre Fähigkeit geht, zu erschrecken. Die Arena der Kriminalität ist der Fernseher. Wenn das Verbrechen aus dem Fernseher persönlich in die Wetterau kommt, setzt sich der Bürger zur Wehr. Daher Spießbürger.

Maier kommt wieder dahin: „Ich muss mit meiner Schwester in der Badewanne gewesen sein.“ Doch damals sei „die geschlechtliche Differenz so ausgeblendet gewesen“, dass sie ihn Jahre später überraschen konnte. Da hatte die Schwester bereits Zugang zu einem Post Exchange Store, in dem sich GI’s mit amerikanischen Produkten versorgten. Der, die, das gigantischste PX war in Gießen. Wer da Zugang hatte, der trank Coca Cola nur noch aus amerikanischer Abfüllung.

Zehntausend Soldaten waren in Friedberg stationiert. Die Bordelle vor Ort konnten „die Grundversorgung“ nicht garantieren. Die geschniegelten Besatzer reichten sich die Klinke und verbrachten Abende mit Andreas’ Schwester unter der Aufsicht des Vaters im Wohnzimmer. Der Vater habe die unpassenden Verehrer präsidial ausgesessen und außerdem die Tochter mit Küchendiensten „rituell erniedrigt“. Auch das hatte Konsequenzen.

Maier leuchtet wie ein Alien den Verhältnissen heim, die ihn im Stil Hesselbach’scher Einfalt und Zwietracht hervorgebracht haben. Wer da wen hinters Licht führt, bleibt von jeher ein offenes Geheimnis. Wem das nicht aufregend genug ist, kann sich gern in die Nesseln setzen.
Jamal Tuschick - 29. Januar 2014
ID 7561
Andreas Maier | Die Straße
Gebunden, 193 Seiten
D: 17,95 € | A: 18,50 € | CH: 25,90 sFr
Suhrkamp Verlag, 2013
ISBN: 978-3-518-42395-0


Weitere Infos siehe auch: http://www.suhrkamp.de/buecher/die_strasse-andreas_maier_42395.html


Post an Jamal Tuschick

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