Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 2

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Lesung


Langer Marsch durch die Drehtür

„Wagemut und Wahrhaftigkeit“ bescheinigt der Politiker Thomas Flierl der Schriftstellerin Brigitte Struzyk im Berliner Brechthaus


Brigitte Struzyk (C) http://www.fixpoetry.com/autoren/brigitte_struzyk.html


Sie war Dramaturgin und Lektorin, und sie hatte ihr persönliches Poesiealbum 1978. Zwölf Jahre später wurde Brigitte Struzyk Referentin im Baudezernat für Pankow. Im Brechthaus spricht die Dichtern Struzyk die im Amt ausgesessene normative Kraft des Faktischen und damit den zähsten Brei der Bürokratie als „langen Marsch durch die Drehtür“ an. Da sie wenig mimischen und gestischen Aufwand treibt und keine Ausrufezeichen in die Luft schreibt, zündet Struzyks Witz kaum. In ihrem Roman Drachen über der Leninallee erzählt sie „zwanzig Jahre Zeitgeschichte an Beispielen in drei Generationen“. Ex-Wissenschaftssenator Thomas Flierl rafft die Handlung so zusammen. Flierl erwähnt die exakte Topografie im Roman und sagt der Autorin „Wagemut und Wahrhaftigkeit“ nach.

Das Auftaktbild ist datiert auf den zehnten November 1989: „In der Herrgottsfrühe von Berlin endete etwas“ und nichts Neues begann. Das „schrien Raben vom Dach“. Das Bild zeigt die Geigerin Ulla Wasser, versunken ins Spiel, vor dem Brandenburger Tor. Sie hält Schuberts Winterreise dem Trubel entgegen. Ihr nah steht ein Paar, verzaubert im historischen Augenblick. Zehn Jahre später geht das Bild um die Welt. Ein Magazin macht auf mit der Aufnahme „von Ulla Wasser und dem Ehepaar Marion und Jürgen Schmitz, die Menge im Weichzeichner aufgelöst“. Sie gerät zum Symbol der 89er-Zäsur, sein Ensemble zur „Ikone des Mauerfalls“ und zum Personal im Zug der Geschichte. „Einsortiert in den Lauf der Darstellung“ wird ferner der Fotograf. Man hört auf Schritt und Tritt die Dichterin Struzyk, da ist kein unbedachtes Wort zu viel. Dieser Virtuosität droht Sterilität, man kann auch zu gut schreiben. Ich bin gebannt von der Lesung und nur kurz davor gescheitert, den Vorsatz zu löschen. Vielleicht werde ich ihn morgen so albern finden, dass ich mich wieder von mir selbst distanzieren muss. Das war ich nicht, das war der Schreibidiot, der meinen Namen trägt.


Eine Abweichung


Die Konvergenztheorie erwartete eine Annäherung der beiden deutschen Staaten als einer Angelegenheit bürgerlichen Behagens. (Auch als offizielle Reaktion auf bürgerliches Unbehagen.) Sie ging von Konsumgemeinschaften aus. Abstimmungen in der Warenwelt sollten die ideologische Differenz bis zur niedrigen Schwelle mindern. Christoph Heins Fremder Freund (Drachenblut) zeigt die DDR Anfang der Achtziger als lethargische Gesellschaft. Die Protagonisten sind ganz privat, der staatliche Einfluss ist ein Rinnsal. Hein weist seinen Helden Merkmale der Vereinsamung nach, er spielt mit Dekadenzmotiven. Die Trennung von Staat und Person ist vollzogen, das beschreibt ein Scheitern. Wollte die DDR doch die Aufhebung dieser Trennung, um auf der Ideallinie vom Engagement jedes einzelnen zu profitieren – in einer sozialistischen Volksgemeinschaft.

Man fotografiert Wolken, passiert in Nouvelle Vague-Landschaften gesetzte Ruinen auf Transitstrecken des melancholischen Eigensinns. Der Staat stört allenfalls an Peripherien der persönlichen Entwürfe. Gegebenenfalls entscheidet man sich gegen das Kollektiv, das doch über dem „schädlichen“ Individualismus stehen soll.

Hein stellt ein Desaster fest. Heiner Müller bestätigt Heins Feststellung. In einem Gespräch mit Sylvère Lotringer sagt er 1981: „Für junge Paare (in der DDR) kommt zuerst das Kind, danach das Auto. Die Leute müssen acht Jahre auf ein Auto warten. Das ist ihr Bild von der Zukunft.“

Lotringer: „Die sozialistische Utopie, verheiratet mit westlichem Konsum?“

Müller: „Das ist die gegenwärtige Aussicht – und eins meiner Schreibprobleme. Ich habe kein Interesse an dieser Art von Leben, und ich kann mich nicht dazu bringen, darüber zu schreiben.“

Auf den Skalen der Fremdheit ist das eine Äußerung im roten Bereich. Die neue Gesellschaft – „der Kommunarden Traum vom Ich zum Wir“ – wird nicht gelingen. Zu dieser Zeit schlenkerte Ulla Wasser aus dem Gleis eines guten Daseins in der DDR als erste Geigerin der Staatskapelle Berlin. Erst ließ man sie nicht mit ins Nichtsozialistische Ausland, schließlich entließ man sie. Sie wurde verhaftet und bespitzelt von dem Dorotheenstädtischen Friedhofsgärtner-IM Johannes Holz alias Arno Schmitz. Den will Ulla nach ´89 lieber so im Gedächtnis behalten, wie sie ihn in Erinnerung hat. Sie möchte „ihren Johannes anlächeln“ und von ihm „mit Blicken buchstabiert“ werden. Sie verweigert ihm seine Enttarnung, nun, da sie zuzeiten auf Schauplätzen ihrer Kindheit „die einzige aus dem Osten ist, hier im Osten“. Nun, da man zu Gegenbesuchen Gelegenheiten wahrnehmen könnte. Ulla steht in einem Düsseldorfer Treppenhaus und muss sich das anhören von der rheinischen Hausfrau im Türrahmen einer anderen Existenzform – und auf der Schwelle einer neuen Mauer: „Hat er auch Kinder mit dir? Du bist doch die aus dem Osten.“

Ulla Wasser imprägniert sich mit „einer Paraffinschicht aus Legendenwachs“. Jede weitere „Verwestlichung“ findet „ohne Gewinn“ statt. Ulla Wasser weiß: „Das Leben kann man sich nur rückwärts vorstellen und vorwärts muss man es leben.“

Im Weiteren geht es um ein Kampftruppendenkmal im Prenzlauer Berg, das im geeinten Deutschland „überwunden und verwandelt“ werden soll, in der Regie des Baudezernats Pankow. Man will die Plastik „einpflanzen“, ihr „ein vegetarisches Dach verpassen“, das wird hintertrieben.

Flierl schaltet sich ein, er steigert das „vegetarische Dach“ zur „veganen Geschichtsaufarbeitung“. „Bei der symbolischen Überwindung der DDR spielen ihre Denkmäler eine große Rolle.“ Auch der Thälmann an der Greifswalder Straße wäre schon längst weg als nicht ganz so groß- und schwerer Bronzebrocken. Wie die Leninallee im Jetzt der Baustellen heißt, stellt sich dem ortskundigen Brechthauspublikums nicht als Frage.


Jamal Tuschick - 17. Oktober 2013
ID 7269
Brigitte Struzyk | Drachen über der Leninallee
280 Seiten, gebunden
€ 19,80 (D)
Horlemann Verlag, 2013
ISBN 978-3-942890-13-7


Weitere Infos siehe auch: http://www.horlemann.info/buecher/fixpoetry/buchtitel/drachen-ueber-der-leninallee-188.html


Post an Jamal Tuschick

Zu den anderen AUTORENLESUNGEN




  Anzeige:


LITERATUR Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUTORENLESUNGEN

BUCHKRITIKEN

DEBATTEN

ETYMOLOGISCHES
von Professor Gutknecht

INTERVIEWS

KURZGESCHICHTEN-
WETTBEWERB
[Archiv]

LESEN IM URLAUB

PORTRÄTS
Autoren, Bibliotheken, Verlage

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal





Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)