Desinformationsgewitter
Egon Bahr erinnert sich an Willy Brandt
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Egon Bahr (91) im Kulturkaufhaus Dussmann - Foto (C) Jamal Tuschick
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Mit dem Journalisten als jungem Skeptiker wäre auch der Spion, der aus der Kälte kam, gut besetzt gewesen. Egon Bahr war ein Schattenmann im Kalten Krieg – der Garant für die Unantastbarkeit seines Chefs Willy Brandt, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Damals, in den 1960er Jahren, glich die Frontstadt einem Vulkan vor dem Ausbruch. Über den rauchenden Kratern ging Tag und Nacht ein Informations- und Desinformationsgewitter nieder. Das erzählt Bahr mit viel Freude am Detail im Kulturkaufhaus Dussmann. Der Schauplatz seiner Erscheinung ist überlaufen, am Einlass kommt es zum Handgemenge. Eine Frau schlägt mit ihrer Tasche zu, da sie sich von einem resoluten Rentner zurückgedrängt sieht. Alle wollen den Jahrhundertzeugen Bahr von Angesicht zu Angesicht erleben, doch nicht alle wollen das mit freundlichen Absichten. Ein Grandseigneur kämpft sich vor, zückt seine Karte wie bei einem Empfang in Prousts Paris und befiehlt einer Angestellten: „Sagen Sie Bahr, dass ich ihn sprechen möchte.“
Der feudalistische Auftritt bringt ihn nicht weiter, der gute Mann sucht sein Publikum unter den Wartenden. „Der Egon ist ein großer Lügner“, erklärt er und beruft sich auf Klaus Schütz, der nach Brandt Berlin regierte: „Das hat der Klaus auch immer gesagt.“
An diesem Abend hyperventiliert Dussmann im Aufruhr historischer Lektionen. Inzwischen ist Bahr einundneunzig, doch kennt man ihn noch als „Architekten der Ostpolitik“ in der Kanzlerzeit von Willy Brandt (1969 bis 1974).
Brandt behauptete am Ende seines Lebens, bloß Bahr als Freund gehabt zu haben. Die anderen waren Rivalen und hielten sich für berufener, so wie Herbert Wehner (den seine kommunistische Vergangenheit diskreditierte und den Bahr einen Verräter nennt) und Helmut Schmidt.
Das musst Du erzählen - Erinnerungen an Willy Brandt heißt Bahrs Buch. Es beleuchtet Brandts charismatischen Charakter. Kein Zweifel, Bahr ist ein Brandt-Bewunderer geblieben. Er nennt den Kanzler der Aussöhnung „einen Glücksfall für Ost und West“.
Der gebürtige Thüringer Bahr trat 1956 in die SPD ein, ein Journalist auf dem Sprung in die Politik. Er war Presseattaché, Sprecher des Berliner Senats und Minister für besondere Aufgaben sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bahr war dabei, als Brandt den „Moskauer Vertrag“ unterschrieb, der die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannte. Ich erinnere mich an die mit Hass erfüllten Entladungen „deutscher Patrioten“ nach der Ratifizierung. Brandt wurde Verrat vorgeworfen, seine Weitsicht stigmatisierte ihn.
Bahr erwähnt die Einsamkeit des Regierungschefs: „Man konnte Brandt nur nahekommen, wenn man ihm nicht zu sehr nahekommen wollte.“ Im Übrigen sei Brandt ein Schnellleser gewesen. Mit der Fähigkeit, das Wesentliche auf den ersten Blick zu erfassen – und, was noch seltener ist, das Wesentliche solange für sich behalten zu können, bis andere es zu ihrer Überzeugung gemacht haben.
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Jamal Tuschick - 19. November 2013 ID 7382
Egon Bahr | Das musst du erzählen - Erinnerungen an Willy Brandt
Gebunden m. Schutzumschlag
240 S. / m. s/w-Abb.
€ 19,99 [D], € 20,60 [A], sFr 27,90
Propyläen Verlag
ISBN-13: 9783549074220
Weitere Infos siehe auch: http://www.ullsteinbuchverlage.de/propylaen/buch.php?id=42414
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