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Österreichische Bewusstseinszustände / Haiders Erbengemeinschaft / SM & Auschwitz

Sigrid Löffler im Gespräch mit Eva Menasse


Eva Menasse (nach oben schauend) im Berliner Brecht-Haus - Foto (C) Jamal Tuschick



Für die Entdeckung der Quasikristalle [so auch der Romantitel, Anm.d.Red.] bekam ein Physiker den Nobelpreis für Chemie. Der in Berlin lebenden Wiener Schriftsteller-Journalistin Eva Menasse bot die preiswerte wissenschaftliche Kategorie der eigenen Produktion einen Begriff. Er führt aus gefällig geordneten Strukturen zu wild-anschaulichen Symmetrien. Diese Komplexität (in den Fängen der Regelmäßigkeit) hatte der Natur lange kein Mensch zugetraut.

Quasikristalle passe ihrem neuen Roman als Titel (des Verfahrens), erklärt Eva Menasse im Berliner Brechthaus. Sie ist Tochter & Schwester bedeutender Österreicher. Ihr Vater spielte in der AU-Fußballnationalmannschaft, Bruder Robert verspricht ein Musil unserer Tage im Plural der Nachrufe zu werden. Senior Hans Menasse entging der nationalsozialistischen Verfolgung als Achtjähriger auf einem „jüdischen Kindertransport“ nach England. Er kehrte zurück, im Gegensatz zu vielen vom Faschismus Verwaisten. Seine Erzählungen im Familienkreis rundeten das Grauen ab. In der Öffentlichkeit klappte der Vater „lieber ein Ohr runter“. Dem Antisemitismus im Alltag verweigerte er die Beachtung. Andere prozessierten um ihre arisierten Sessel – mit Nachbarn ohne Unrechtsbewusstsein. Die Bigotterie sei das Schlimme, „diese Gefühlsschlamperei“. Eva Menasse: „Ich wollte da raus.“ Sie federt das: „Um in so einem kleinen Land zu bleiben, war meine Schwester zu schön und mein Bruder zu berühmt.“ In Deutschland setzte sie „sich einem neuen Milieu mit einer anderen Bodenlosigkeit“ aus.

Eine andere Wienerin führt Eva Menasse im Brechthaus ein. Sigrid Löffler gleicht immer mehr einem zerschossenen Kreuzer und zugleich dem sinkenden Kapitän auf überspültem Deck. Sie weiß: „Österreichische Bewusstseinszustände muss man Deutschen erklären.“

Beide Wienerinnen schließen Österreich nach dem Comeback der Rechtspopulisten für sich als Lebensraum aus.

Sigrid Löffler isoliert Marken aus dem Werdegang der Autorin. Als Journalistin beobachtete Eva Menasse in London einen Prozess, den David Irving gegen die Historikerin Deborah Lipstadt und ihren englischen Verlag Penguin angestrengt hatte. Mit enervierenden Zahlenspielen stellte der Holocaustleugner Irving vor Gericht die industrielle Judenvernichtung in Abrede. Das nötigte Gutachter, ihn mit ihren Zahlen in zweiunddreißig zähen Verhandlungstagen zu widerlegen.

Sigrid Löffler fragt, wie so ein Irving Jahrzehnte dem „Spiegel“ als Spezialist für das Dritte Reich sich hatte unterschieben können. Eva Menasse gelangt zu einer bestechenden Erklärung. Der junge Irving sei „auf die Witwen und Waisen der Nazigrößen losgegangen“ und habe „denen ihre Erinnerungen abgeschwatzt“. Diese Memorabilia bildete einen Quellen-Grundstock, an dem man dann lange meinte, nicht vorbei zu kommen. Irving zauberte die weißen Kaninchen der Originale aus dem Hut aka die Banalität des Bösen als Handschriftensammlung im Schnellhefter.

Eva Menasse sagt auch: „Die Dinge, vor denen man sich fürchtet, muss man sich anschauen.“ Deshalb besuchte sie Auschwitz, wie dann auch ihre Heldin Xane Molin in Quasikristalle. Eva Menasse fragte sich: Wie funktioniert „das Museum Auschwitz?“ Das Restaurant ist jedenfalls in der ehemaligen Entlausungsbaracke untergebracht. Man kann Souvenirs kaufen wie Sonntags vor jedem Denkmal. Trotzdem bestimme „die historische Evidenz der Judenvernichtung“ das Bild. Das Exkursionsprocedere sei „klar geregelt wie SM im gegenseitigen Einvernehmen. Man legt dem Besucher ein Halsband an, dass er sich nicht selbst verletze“.

„Auch in Auschwitz werden Kinder geboren und Blumen verkauft.“

In dreizehn Kapiteln erzählt Quasikristalle aus Xanes Leben: wie andere es erleben. Mit einer Ausnahme spiegeln sich diese Perspektiven in der Dritten Person. Judith ist beste Freundin der Heranwachsenden. Sie registriert Xanes Selbstbezogenheit, während jene nicht bemerkt, dass Judiths Vater seine Tochter misshandelt. Xane spreizt sich vor dem fremden Vater als Premiumeleve. Die Mädchen nehmen sich gespannt wahr, sie werden nicht mehr lange gemeinsame Wege haben. Jahre später schließt Xane sich in Auschwitz einer Führung an. Ihr „Guide“, ein polnisch-englisch-französischer Gelehrter namens Bernay, erkennt in Xane den „klassischen Fall halbjüdischer Doppelhelix“. Das beschreibt eine Verbindung aus Angst und poröser Zugehörigkeit.

Sigrid Löffler: Quasikristalle bietet sich „positiven Missverständnissen“ an. „Der Roman hat es faustdick hinter den Eselsohren.“ Das Publikum neige jedoch gemeinhin dazu, Eva Menasse auf die leichte Schulter zu nehmen und „die kritische Schärfe“ der Autorin zu übersehen. Ich finde, diese Schärfe lässt sich gar nicht ignorieren.
Jamal Tuschick - 19. Oktober 2013
ID 7277
Eva Menasse | Quasikristalle
2013, 426 S., geb., 17,99 Euro
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln
ISBN: 978-3-462-04513-0


Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/quasikristalle/978-3-462-04513-0/


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