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Das Geschlecht der Blumen

Helmut Höge im Knaack 94: „Alles, was möglich ist, wird von der Natur realisiert“

Helmut Höge sieht aus wie Peter Suhrkamp vor dem Krieg aussah. Er trägt das Haar cäsaresk. Ferner erinnert seine Erscheinung an Mephisto nach Art eines Gründgens. Wenn der taz-Hausmeister Urlaub macht, springt Höge ein. Jahrein, jahraus versorgt er den Putzdienst der taz mit Mitteln zum Zweck. Er promoviert über die Stechimme an der Universität seiner Zuneigung. Er verteidigt seine Arbeit im Knaack 94, der Geist von Ernst Jünger spricht durch die Blume von ihrem Geschlecht. Seit dem 18. Jahrhundert weiß man über die Anatomie der Pflanze vollständig Bescheid. Das Florale erschöpft sich in der Anziehung von Insekten. „Da geht alles hin“, schreibt Höge. Er hält seinen Vortrag protestantisch nüchtern. Vor ihm sitzen zwei Botaniker und nicken synchron. Höge hat ihre volle Zustimmung.

Christoph Konrad Sprengel, Direktor der lutherischen Realschule zu Spandau, entdeckte „die ideale Beziehung“ zwischen Blume und Biene in der Konsequenz einer Co-Evolution. Sprengel bemerkte, dass „viele der spektakulärsten Orchideen gar keinen Nektar“ spendieren – die Natur als Ninja-Meisterin der Täuschung. Sprengel: „Ich muss gestehen, dass diese Entdeckung mir keineswegs angenehm war.“

Die Pflanze organisiert ihre Befruchtung, indem sie einnehmend wirkt. Der Fliegen-Ragwurz präsentiert sich als „potentielle Partnerin für Grabwespen“. Er lädt die Wespe mit Mimikry zur Kopulation ein. Frei von Ingrimm führt Höge aus: „Teilweise geht die Täuschung soweit, dass Bienenmännchen der Gattung Andrena die entsprechenden Ophrys-Blüten sogar einem Weibchen vorziehen.“

Solche überoptimalen Attrappen können auch bei unserer Gattung zur Verwirrung führen. Ob hier von Betrug die Rede sein muss? Jedenfalls fand das Reichsgericht zu dem Urteil, die vorgeblich „getäuschten“ Tiere würden mit Parfüm belohnt, „den terpen- und fettsäurederivathaltigen Sexuallockstoffen“. Das sei „die gewünschte Gegengabe“ und deshalb läge kein Betrug vor.

Duft als Belohnung – Höge rückt den Zusammenhang in die Nähe von Rausch. Das affizierte Insekt im Rausch der Sinne – so sieht es Höge. Die Botaniker pflichten bei. Der Referent an Ort und Stelle eines Powerpoints im Prenzlauer Berg zitiert die Biologen Deleuze und Guattari. „Werdet wie die Orchidee und die Wespe“, raten jene.

Höges literarische Übergänge erscheinen im Verlag Peter Engstler (s. URL).

Sie sind erhellend und frischen das Gedächtnis auf. Wann hat man denn zuletzt daran gedacht, dass sich „viele Pflanzen ganz auf Hummeln eingestellt haben. Dazu zählen Löwenmäulchen, Fingerhut, Leinkraut, Eisenhut und Rotklee sowie alle Pflanzen, in deren Blüten kurzrüsselige Bienen nicht hineinreichen.“

Längst denkt keiner mehr bei einer Biene an die dekorativen Umstände ihrer Fortpflanzung. Doch ging nicht die Politologie in ihren Anfängen von der Staatenbildung der Bienen aus. Dass „der Staat gleichsam sich vor seinen Bürgern konstituiert habe als eigener Zweck“, siehe Professor Erika Klapton, Studien zur Maja-Kultur, Berlin/Bombay 1987.

Als Schmuckstück ist die Biene Herrschaftszeichen seit den Merowingern. Napoleon berief sich auf die Biene bei der Begründung imperialer Ansprüche. Folglich könnte man sie als Französin der Fauna beschreiben. Der passionierte Imker Maurice Maeterlinck setzte Hummeln „auf die vorletzte Kulturstufe der edlen Bienen“. Höge folgert: „Es gibt demnach auch unter diesen Insekten eine soziale Entwicklung in aufsteigender Linie. Die 'zottigen, untersetzten Hummeln' galten Maeterlinck darin 'noch als halbe Barbaren'“, weil sie ... Kelche zerbeißen und ihre Arbeiterinnen „es sich ... nicht einfallen lassen, der Liebe zu entsagen, während unsere Hausbiene in unbedingter Keuschheit lebt.“

Da zeige sich deutlich „ein Wille zur Veredelung der Art“. Höge nimmt Theodor Lessing in die Pflicht: „Die Biene opfert ihr Leben dem Werk, die Wespe opfert ihr Werk dem Leben.“

Simone de Beauvoir erklärte die Biene „zur Kronzeugin des Matriarchats seit der Kreidezeit“.

Nun summt das Knaack 94 wie ein Bienenstock, Rauchschwaden offenbaren ihren Wabencharakter. Die Kneipe ist komplett zu Höge aufgerückt. Die Botaniker zeigen sich verwundert. Ihr Orchideenfach findet eine Mehrheit. Höge beruft sich auf Jean-Henri Fabre, ein Mann der Schlupf- und Grabwespen. „Ich glaube nicht an Gott, ich sehe ihn jeden Tag bei der Arbeit“, meinte er. Schlupfwespen ernähren ihre Brut mit anderen Insekten. Grabwespen paralysieren Raupen und legen dann ihre Eier auf den Raupen ab. Die Larven leben schließlich von den Raupen, die auch noch leben. Fabre zog aus seinen Beobachtungen den Schluss: „Das Insekt hat kein Sittengesetz.“

Dem wurde und wird widersprochen, doch Höge kommt zu den Termiten. Er hat sich herumgesprochen, in den rufweiten Kneipen sitzt kein Mensch mehr. Sollte das Insekt nicht doch ein höheres Sittengesetz haben als der von Individualitätssucht invalide Mensch? Die Soldaten der Termiten halten jedem Ameisenangriff auf ihre Heimstatt stand, während hinter ihnen Arbeiter fieberhaft den Bau versiegeln, der nun nicht mehr ihre Rettung sein kann. Sie kämpfen in der Gewissheit „dem unversöhnlichen Feind ausgeliefert zu sein.“

Höge fragt: „Ist das nicht erhabener als die Thermopylen, wo es noch Hoffnung gab.“

Nun spricht die Kneipe wie ein Mann über König Leonidas und seine Spartaner im Kampf gegen die Perser an einer Engstelle im Gebirge. Leonidas soll in seiner berüchtigten Hummelrede auch vom Stachelstolz der Bienen gesprochen haben.
Jamal Tuschick - 8. Februar 2014
ID 7586
Weitere Infos siehe auch: http://www.engstler-verlag.de/produkte/hoege_helmut_bienen/


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