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Lesung


Aus nächster Nähe

Jürgen Theobaldy liest im Berliner Literaturhaus aus seinem neuen Roman


Jürgen Theobaldy las gestern am 29. August 2013 im Berliner Literaturhaus aus seinem neuen Roman Aus nächster Nähe (s. Buch-Cover)



Auf dem Kurfürstendamm spielt ein Stehgeiger mit allen Zeichen seiner im Orchestersterben aufblühenden Zunft Themen von Ennio Morricone. Sie leuchten Erinnerungen heim. Zu den Weisen aus Amerika, wie es einmal war, stellen sich Noodles (Robert de Niro) und Fat Moe (Larry Rapp) ein. Der Bewunderer sagt: „Ich hätte alles auf Dich gesetzt.“ – Der Bewunderte entgegnet: „Dann hättest du alles verloren.“

Ich finde Noodles Antwort immer noch unglaublich, de Niro kann gar nicht scheitern. Mit dieser Gewissheit komme ich ins Literaturhaus, Jürgen Theobaldy liest aus seinem Roman Aus nächster Nähe. Auch die Romanschauplätze liegen gerade nah. Theobaldy erzählt aus der Charlottenburger Perspektive des alten Berliner Westens, wie die Mauer zur Leerstelle wird – in „Berlins abgewirtschafteter Mitte“. Er führt dem Leser ein Milieu vor Augen, das abgegriffen und ranzig geworden ist wie eine verteidigte Wohnung unter all den Renovierten. Richard und Gunter leben in Wohngemeinschaft und existieren im Spektrum zwischen Taxi-Kollektiv, ausgefallener Imbissbude als Idee und der Realität in einem Verlag. Gunter hat bis auf weiteres Johanna zur Freundin, Richard träumt von seiner Jugendliebe Mona, findet aber auch an Johanna Gefallen.

Der Autor spricht so sämig wie Joy Fleming singt. Er wuchs in Mannheim auf, zu früh für die „Söhne“ der Kurpfalzkapitale. Er lebt in der Schweiz, war Protokollschreiber im eidgenössischen Parlament.

„Meine Aufgabe bestand darin, politische Debatten in eine luzide Form zu bringen“, sagt er gelegentlich. In den Sommerpausen des Parlaments habe er kurze, abschließbare Sachen geschrieben, die Romanproduktion sei auf der Strecke geblieben.

Jürgen Theobaldy wäre beinah berühmt geworden zu einer Zeit, als die Frage nach der politischen Relevanz das Gespräch über Literatur bestimmte. Man kann keine dümmere Frage stellen. Romane und Gedichte überleben Staaten spielend. Gemeinsam mit den Antiquitäten stiften sie die Epochenbegriffe.

Theobaldy war dabei, als der explosivste Lyriker seiner Generation, Rolf Dieter Brinkmann, in London überfahren wurde. Im Literaturhaus wirkt er wie ein Küfer, der von einer Renaissance der Fässer träumt. Die greisen Genossen im Publikum zeigen an, for whom the bell tolls. Auch das ein obsoleter Titel - Tempi passati auf der ganzen Linie.

Ich bemerke Hans Christoph Buch, bis ich erkenne, dass da Friedrich Christian Delius sitzt. Der fällt weicher als Theobaldy aus seiner Zeit.

Es gibt im Roman die Erinnerungen an malerisch desolate Pariser Hotels, an „aufgenähte Flicken“ und „dunkle Höfe“ in der Gravitation von Brustwarzen. Es gibt die Neigung zur eigenhändigen Nudelherstellung und „die alten Rocknummern in der Dicken Wirtin“ am Savignyplatz. Das leiert, so ein Leben könnte einem zusätzlich geschenkt werden, man müsste es kurzerhand zu anderem Leergut packen. Berlin – eine Leerstelle voller Leergut. Bei alldem ist den Helden auch nicht wohl – und wehe sie erliegen dem Zwang zu memorieren: „In der engen, von hohen Lehnen umgrenzten Nische fühlte Richard sich neben Mona in einer leise bebenden Höhle, die wirklicher war als ... . Als sie wieder nebeneinander lagen, schämten sie sich ihrer Gier nicht, nicht für den Speichel, die Nässe, den Schweiß und seinen Geruch, und da fühlte sich Richard auf einmal aufgenommen“. Irgendwie in „die Gemeinschaft der Lebenden“.

Die Reminiszenz atmet Gegenwart. Denn Mona taucht in der Handlungsgegenwart auf. Während Johanna sich von Gunter ab- und Richard zu- wendet.

Theobaldy vergewissert sich In nächster Nähe eines biografischen Standardtextes seiner Generation. Die Nähe zum bewaffneten Kampf gehört dazu. Dazu gehören die Gitarren unter dem Moon Of Alabama. Der Autor erzählt in Rückblenden von einer „erfüllten Beziehung“, wie man schließlich anfing: Verhältnisse zu nennen, die nicht mehr zwangsläufig in Ehen ausliefen. Sein Richard wirft sich die Dummheit vor, nicht erkannt zu haben, dass er mit Mona gemeinsam eine Ideallinie des Lebens zog.

Im permanenten Jetzt verspricht ihm die Verlagsarbeit „eine Art pulverisierter Sinn“. Richard trägt Korrekturen ein, Johanna signalisiert ihr Interesse, man könnte einmal wieder „zu einem der stilleren Griechen in Reichweite der U-Bahn zum Viktoria-Luise-Platz“.

Einmal heißt es. „Ab welcher Größe wird aus einem Missgeschick ein Unglück?“ – Das Unglück der Vertreibung aus dem Paradies der ersten Liebe? Theobaldy führen seine Vermessungen in die Peinlichkeit. Am liebsten möchte er das ganze Buch vorlesen – und auch noch die historischen Koordinaten bestimmen. Die Differenz zwischen dem Kommunistischen Bund Westdeutschland, „die wollten die Weltrevolution unter Umgehung des Proletariats“ und „den Spontis“, die dann Grüne wurden und eines ihrer Schimpfwörter, „Realpolitik“, zum Gütesiegel ihrer politischen Vernunft machten. Jetzt ist der Augenblick gekommen, um Grillparzer ins Spiel zu bringen: „Und will meine Zeit mich bestreiten/ ich lasse es ruhig geschehen/ ich komme aus anderen Zeiten/ und werde in andere gehn.“


Jamal Tuschick - 30. August 2013
ID 7097
Jürgen Theobaldy - Aus nächster Nähe
184 Seiten, Hardcover
19,80 EUR
Wunderhorn
ISBN 978-3-88423-441-9


Weitere Infos siehe auch: http://www.wunderhorn.de/wunderhorn/content/buecher/pool/978_3_88423_441_9/index_ger.html


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