Die Dependance als Residenz
Peter Esterházy liest Imre Kertész im Berliner Collegium Hungaricum
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Foto (C) Jamal Tuschick
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Das Collegium Hungaricum am Kupfergraben von Berlin sieht wie eine Botschaft aus. In jeder Bedeutung von Botschaft verstehe ich das Collegium Hungaricum nicht als Dependance, sondern als Residenz. Die Leselampe für Peter Esterházy ist gewiss nicht ausrangierter Jugendstil, ich komme nur gerade über dieses Wort nicht hinweg. Solche Leuchten findet man in der Bibliothèque nationale de France.
Ich wundere mich über Wucht und Bedeutung, die im Augenblick mitspielen wie Verteidiger einer Fußballmannschaft. Das Auditorium hat sich wie zum Konvent versammelt. Ja, den Ungarn bedeutet der Schriftsteller Peter Esterházy so viel wie Deutschen ein Großpolitiker. Ich habe mit ihm vor Jahren das neue Frankfurter Literaturhaus eingeweiht, in der gastgebenden Gesellschaft erschien er geradezu studentisch, ganz anders als nun im Collegium Hungaricum. Man empfängt ihn wie einen doppelt legitimierten Repräsentanten. Esterházy ist ein Dichter mit Stammbaum.
„Eine derart ausgelastete Persönlichkeit ans Haus zu holen“, heißt es im Vorspann. Dass sie (die ausgelastete Persönlichkeit) zu kommen „überhaupt nur an einem Horizont ihrer Möglichkeiten“ erwägen könnte, schien vermessen zu erwarten, heißt es. Die Rede ist dann noch von organisatorischen Abenteuern.
Ist das noch der alte KuK-Schnack? Wie auch immer, Peter Esterházy ist nach Berlin gekommen, um an Stelle des in Berlin halbwegs verschollenen Olympiasiegers Imre Kertész aus dessen Tagebüchern zu lesen.
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Nicht Olympiasieger, Nobelpreisträger. Seit 1992 veröffentlicht Kertész seine Tagebücher. Sie dokumentieren, so sagt es Esterházy, „wie Hoffnung aus lauter Hoffnungslosigkeit entsteht“.
Kertész schreibt von einer „Galeerenarbeit der Selbstdokumentation“. Sein Freund erinnert im Collegium Hungaricum an die Isolation der Schriftsteller in ihrer Heimat zu Zeiten des Kalten Kriegs: „Wir waren absolut allein.“
„Seit einer Weile kann ich meinem Leben nicht mehr folgen“, schreibt Kertész. Letzte Einkehr lautet der Titel seiner Notizen aus den Jahren 2001–2009, deren Veröffentlichung für den 20. September angekündigt ist. „Ein radikal persönliches Buch“, sei Letzte Einkehr, „bis schließlich nichts mehr übrig bleibt ... Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie“.
„Meine einzige Identität ist die des Schreibens.“ (Imre Kertész)
Sein „Trivialitäten-Tagebuch“ habe Kertész geführt auch deshalb, um sich Klarheit zu verschaffen „über die dem Ruhm geschuldete Selbstentfremdung“. Dabei schwebte ihm „ein Werk im Stil von William Turner vor“.
Die Reverenz glänzt in ihrer Eigenart. Die ungarische Kritik verfolgte Kertész mit Hass, „man zog seinen Namen in den Dreck“. Kertész antwortete sich: „Ich, das ist eine hilflos im Honig ertrinkende Fliege.“
Dann tritt wieder Humor ein: „Tagebuch schreiben ist nicht nur metaphysische Pflicht, manchmal kannst du auch ein Datum gebrauchen.“
„Unsere Existenz ist existenzlos. Unsere Wirklichkeit ist unbegründet. Um uns ist Angst.“ (Imre Kertész)
Kertész hat Auschwitz überlebt, mit Zyklon B habe man „die Prozedur humanisieren und beschleunigen“ wollen.
„Trauer ist das schlechte Gewissen der Überlebenden.“
Über die Liebe: „Im archimedischen Punkt der Existenz ist der Andere.“ – Der es fertig bringt, zu lieben. Fällt der Andere aus, ist man erledigt.
Über den Tod: Man verpasst dem Schriftsteller einen Herzschrittmacher. Kertész fragt: „Kann ich nun nicht mehr sterben?“ – Der Arzt unterkühlt: „Es gibt auch Hirntode.“
Vom Regen in die Traufe I: Herr W. ist in den Westen gegangen, um sein Judentum zu vergessen. Er gerät an „eine kompensierende Deutsche“, die Herrn W. „mit erlesenen Perversionen“ ständig an das erinnert, was er vergessen will.
Vom Regen in die Traufe II: Der alte Zobel muss ins Krankenhaus, man zieht ihn voll des Ekels aus seinen Schichten. Der Beobachter nimmt die zwanghafte Entkleidung als Beispiel für „restloses Ausgeliefertsein“. Ein Arzt: „Was Ihnen fehlt, wissen wir erst, wenn wir sie aufgeschnitten haben.“ Das sich den Pflegern widersetzende Skelett (namens Zobel) wird bald ans Bett gebunden.
Kertész kehrt in die Selbstbetrachtung zurück. Er über sich: „Er trägt Baskenmütze wie ein Sonntagsmaler, das schrecklichste Verhängnis hat ihn erreicht: die Altersweisheit.“
Kertész auf Lesereise, er fährt durch Ostdeutschland und belauscht mit äußerstem Abstand die ehemaligen Verbündeten. Sie scheppern förmlich vor Eurogerede. Um hier den bösen Witz zu verstehen, muss man wissen, was Kertész über das Überleben sagt: „Wenn ich ... überleben will, muss ich ... (der) Logik (der Machtverhältnisse) folgen. Diese willentliche oder nicht willentliche Kollaboration ist die größte Schande des Überlebenden, er kann sie nicht eingestehen.“
Identifikation mit dem Aggressor, man lernt die Gesetze des Lebens aus Tierfilmen. „Wenn man einmal gesehen hat, wie ein Rudel Hyänen ein Gnu zerreißt.“
„Auch das Glück gehört zum Grauen.“ – Inzwischen kann der Schriftsteller die eigene Handschrift nicht mehr lesen. Er führt seinen Gottesbeweis: „Wenn der Atheist möglich ist, dann ist auch Gott möglich.“
Schließlich stellt Kertész fest: „Ich habe mein Leiden gut genutzt.“ So endet Esterházy, um unverzüglich das Podium zu räumen. Vielleicht erwartet man ihn an anderer Stelle. Schließlich ist Internationales Literaturfestival. Doch kann sein, dass er sich keine Fragen stellen lassen möchte, um mit seinen Antworten den Veranstalter nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Mir gefällt die Idee eines diskreten Widerstands als Erklärung – Ein Hauch von Prager Frühling in der Berliner Herbstluft.
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Fotomontage (C) Jamal Tuschick
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Jamal Tuschick - 14. September 2013 ID 7145
Imre Kertész, Letzte Einkehr
Rowohlt
464 Seiten
24,95 Euro
ISBN 978-3-498-03562-4
Weitere Infos siehe auch: http://www.rowohlt.de/buch/Imre_Kertesz_Letzte_Einkehr.2981947.html
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