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Lesung

Der Klassenfeind im Klassenzimmer

Sabine Rennefanz liest „Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration“


Das ist Sabine Rennefanz auf ihrer Eisenkinder-Lesung im Berliner Brecht-Haus - Foto (C) Jamal Tuschick


Der Historische Materialismus beweist die Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlaufs. Sabine Rennefanz wähnt sich auf ihrer Erweiterten Oberschule in „der Symbol gewordenen“ Eisenhüttenstadt daheim bei Siegern. Sie ist fünfzehn, als der größte anzunehmende sozialistische Unfall eintritt. Plötzlich steht der Klassenfeind im Klassenzimmer.

Rennefanz beschreibt den Schock als Schmiede einer soziologisch greifbaren Generation. „Die Eisenkinder“ verbindet ein kultureller Dissens zur Mehrheitsgesellschaft, den man nicht sieht. Es gibt kein optisches Merkmal zur Differenz.

Rennefanz weist auf den nationalsozialistischen Untergrund als einer markanten Bewegung der Eisenkinder-Jahrgänge. Dazu schrieb sie in der ZEIT: „Ich erzähle (der Mutter von Uwe Böhnhardt) meine Geschichte, wie ich ähnlich wie ihr Sohn in den neunziger Jahren abgedriftet bin – in eine evangelikale Kirche. Es ist eine schwierige, eine unmögliche Situation. Wie spricht man mit einer Mutter, deren Sohn mutmaßlich zehn Menschen ermordet hat und sich am Ende selbst tötete? Ich will mich nicht mit Uwe Böhnhardt vergleichen. Ich kann mich nicht mit ihm vergleichen.“

In dem Aufsatz Uwe Mundlos und ich stößt sich die Journalistin an einer automatischen Verknüpfung von NSU und Ostdeutschland. Sie ärgert sich über die behauptete Deutungshoheit westlicher Kollegen im Zusammenspiel mit östlichen Phänomenen. Der Wessi weiß, was in DDR-Familien den Alltag bestimmte. Er wird sich im Leben nicht fragen, woher er sein Wissen hat. Er setzt das Wissen bei sich schlicht und ergreifend voraus. Rennefanz reagiert sauer auf die Überheblichkeit. Sie verbreitet ihr Unbehagen: „Es fiel mir schwer, ruhig zuzuhören, mir war auf einmal heiß, mein Gesicht brannte.“

Rennefanz regt sich über die Süddeutsche Zeitung auf. „Darin wird behauptet, die Terrorserie sei ein Rachefeldzug der postsozialistisch erzogenen Jugendlichen gegen die pluralistische Gesellschaft im Westen.“

Für Rennefanz klingt die bürgerliche Berichterstattung („mit ihrer Siegermentalität“), als seien schon „die Kinderkrippen Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Ostens.“

So griffig und in Rage geht es im Brechthaus weiter. Im Gespräch mit dem Historiker Wolfgang Benz erinnert Rennefanz an fließende Übergänge von einem System ins andere. Sie skizziert biografische Volten „der Wendehälse“. Sie verfolgt die Verwandlungen im Lehrkörper. Sie erzählt von einer verbreiteten Anfälligkeit für Heilsbringer und einfache Wahrheiten. Man suchte Orientierung und war schwer enttäuscht von Leuten, die man bis neunundachtzig für berufen gehalten hatte. „Ich hätte Islamistin, Scientologin oder Neonazin werden können. Es war einfach nur die Frage, wer mich zuerst ansprach.“

Rennefanz beruft sich auf eine These, die sagt, der Nachwuchs eines zusammengebrochenen Staates radikalisiert sich. Er verschließt sich allem, was zusätzlich irritiert. Wer die Identität in Frage stellt, ist der Feind. – Und die Identität kommt aus der von ihren Ankern gerissenen Herkunft. Als unbefestigte Angelegenheit. So schließt sich der Kreis.

Als besonders Begabte wird Rennefanz in der Leistungsgesellschaft DDR besonders gefördert. Sie besucht „eine Talentklasse“, bis die Mauer fällt. Am ersten Tag der offenen Grenze erlebt sie ihren Staatskundelehrer im Zustand der Auflösung. Die Autoritäten zerfallen mit dem Staat. Kombinate werden aufgelöst, Straßenschilder abmontiert. „Wir hatten das falsche Leben gelebt. ... Aus Frieden und Sozialismus wurde Demokratie und Toleranz.“ – Inzwischen ist der Staatskundelehrer als Gemeinschaftskundelehrer schon wieder auf der Höhe der Zeit. Während die Russischlehrerin dem New Age verfällt. Ein amerikanischer Selbsthilfe-Guru zieht sie magisch an.

Die Schülerin Rennefanz sagt: „Kohl ist kein Landsmann von mir, und mein Land gibt es nicht mehr.“

Die Talentklasse wird aufgelöst, die Eltern sind arbeitslos. Sabine Rennefanz „nimmt das alles persönlich“. Sie lernt „die Lehrsätze der Ellenbogen-Gesellschaft“. Sie versucht, „die DDR zu vergessen“. Heute sagt sie: „Die Fremdheit wird bleiben.“
Jamal Tuschick - 24. Januar 2014
ID 7547
Sabine Rennefanz | Eisenkinder
Paperback, Klappenbroschur
256 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
€ 16,99 [D] | € 17,50 [A] | CHF 24,50
Luchterhand Literaturverlag
ISBN 978-3-630-87405-0


Weitere Infos siehe auch: http://www.randomhouse.de/Paperback/Eisenkinder-Die-stille-Wut-der-Wendegeneration/Sabine-Rennefanz/e417171.rhd


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