Goya oder der Beginn der Pornografie
Ferdinand von Schirach stellt seinen zweiten Roman, „Tabu“, im Berliner Ensemble vor
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Ferdinand von Schirach konzentriert sich im BE auf seine Buchsignierung - Foto (C) Jamal Tuschick
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Eine Ansicht aus dem Jahr 1839 macht den Anfang der Fotografie. Die älteste Aufnahme (des Boulevard du Temple in Paris) zeigt auch einen Mann. Er ließ seine Schuhe putzen und stand deshalb ruhig genug da für die Ewigkeit.
Der Rechtsanwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach eröffnet das Panoptikum seines zweiten Romans mit dieser Szene. Er erzählt von den versilberten Kupferplatten aus der Werkstatt des Louis Daguerre.
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„Die einzigen Dinge von Bedeutung“, erklärte James Salter zuletzt der Zeitung Die Welt, „sind die Dinge, an die man sich erinnert.“
Sebastian von Eschburg ist Synästhetiker, seine Erinnerungen sind so farbenfroh wie trist. Sie kreisen um eine lieblose Kindheit und den Selbstmord des Vaters. Der alte Eschburg hat sich den Kopf weggeschossen. Er konnte den Zustand seiner Leiche voraussehen. Die Eschburgs waren von jeher Jäger und Reisende. Ein Spross versank mit der Titanic. Das Stammhaus versammelte die Souvenirs der Heimkehrer: Elefantenfüße, präparierte Alligatoren von zweifelhafter Provenienz und gefälschte Barockmöbel aus Florenz.
Eine Skizze des Niedergangs. Travestie im aristokratischen Habitat. Das alte Hausmädchen ist eine noch ärmere Verwandte. „Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Eschburgs zum letzten Mal Geld“, erfährt der Zuhörer im Berliner Ensemble. Das Theater am Schiffbauerdamm fasst den Andrang soeben. Schirach erscheint als Ausbund geschätzter Eigenschaften. Er wirkt jovial in der Guttenberg’schen Art, er steckt voller Schnurren und Spitzen und hat auch noch den Kavalier Alter Schule als As im Ärmel. Kollegen lobt er über den grünen Klee. Er besingt Marotten von Michel Houellebecq. Der Kollege erschütterte ein Stuttgarter Theater mit den Bedingungen, die er an seinen Auftritt knüpfte. Gegen alle schwäbische Vernunft und Ordnungsliebe verlangte er, auf der Bühne rauchen zu dürfen, in der Gesellschaft seines Hundes.
„Bedenken Sie die Feuerverhütungsvorschriften“, riet Schirach dem Publikum. Das Personal musste einen Sonderkurs zur Feuerbekämpfung absolvieren – und dann verzichtete Houellebecq am Abend seines Erscheinens auf jede Zigarette. Er beantwortete keine Frage. Schließlich sagte er zu seinem Hund: „Komm wir gehen.“
„Eigentlich wollte ich Ihnen à la Houellebecq die Zeit verkürzen“, amüsiert sich Schirach.
Sebastian ist eine Hausgeburt, ein Apotheker gibt die Hebamme. Mit acht darf der Knabe zum ersten Mal am Tisch der gleichgültigen Eltern essen, der Mutter ordnet er Farblosigkeit zu. Während jedes A rot und jedes B gelb ist für Sebastian, den Synästhetiker, wie gesagt.
„Wieso Synästhetiker?“ fragt Meike Feßmann, die von Schirach fesselnd vorgestellt wurde. Er hob die Vorzüge der moderierenden Philologin so hervor als sei er zu ihrem Laudator bestellt worden.
Schirach gibt eine biografische Erklärung ab. Er selbst sei Synästhetiker. Auch seine Erinnerungen haben Farben. Er erklärt sich zum leichten Fall: „Andere nehmen Töne als Gegenstände wahr. Denen klingeln Waschmaschinen in den Ohren.“
Sebastian sucht die Wahrheit in der Schönheit. Er wird Fotograf und könnte im verlängerten Augenblick der Handlung zum Frauenmörder geworden sein.
Man erkennt das Muster: Am Ende einer erschlafften Dynastie einst forscher Jäger, steht ein Fotograf auf den Abwegen seiner „Schneidelust“. Mit pornographischen Inszenierungen zieht er Interesse auf sich. Er variiert Goyas nackte und bekleidete Maja.
Goya habe „zum ersten Mal Schamhaare gemalt und so die Pornografie eingeläutet“, behauptet Schirach. Der Schriftsteller hat etwas von einem genialischen Kauz, auch bei der antiken Bemalung des Kouros’ von Samos war man nicht so frei, auf Details zu verzichten. Doch hatten die womöglich keine erotische Dimension.
Wer weiß. Schirach kommt auf Balzac, um eine Frage zu beantworten, die er sich selbst gestellt hat – Warum schreibt einer? Er schreibt, weil er nicht in die Welt passt. Wer sich seiner selbst sicher ist, muss keine Welt aus Worten schaffen.
Schirach zitiert aus einem Briefwechsel zwischen Hemingway und F. S. Fitzgerald. Einer schreibt dem anderen zum Trost. Schirach zitiert Kafka. Kafka über Lasker-Schüler: „Ich kann ihre Gedichte nicht leiden. Sie kommen aus dem wahllos zuckenden Gehirn einer Überspannten.“
Schirach erzählt, wie Jonathan Franzen schreibt, nämlich in einer Raumkapsel. Er zieht Philip Roth heran: „Ich lebe nur, wenn ich schreibe.“
Jetzt könnte ich mit Musil aushelfen: „Ich lebe nur, um zu rauchen.“ Schirach vermutet eine Gemeinschaft der Schreibenden & Lesenden, er grenzt seine Berufe voneinander ab: „Verteidigen ist ein sozialer Vorgang, Schreiben entspricht dem Gegenteil.“
Der Schriftsteller Schirach bietet zu Sebastians Verteidigung den altgedienten Konrad Biegler auf. Das ist ein im Verlust der Jahre unmodern gewordener Mann. Nach einem Zusammenbruch auf weiter Gerichtsflur hört er „einem Psychoanalytiker beim Atmen zu“. Er bricht die Analyse ab, kauft sich den gesammelten Freud und stellt ihn im Regal kalt. – Ein exorzistischer Vorgang.
Biegler bequemt sich zur Kur auf einem Zauberberg und reagiert allergisch „auf Gras, Heu, Hunde, Katzen und Pferde.“ Gutgelaunte Menschen sind ihm suspekt.
Den Mann kann man sich vorstellen, seit 31 Jahren Strafverteidiger in Berlin und durchdrungen von der Heisenberg’schen Erkenntnis, dass jeder Gegenstand sich in der Betrachtung ändert. Das erklärt Gerechtigkeit zur Ansichtssache und Wahrheit zur relativen Größe.
Im Berliner Ensemble erklärt und erzählt Schirach viel aus der Rechtspflege von der Antike bis zur Gegenwart. Das bleibt interessant, zumal in Tabu an einem kriminalistischen Vorgang gerührt wird, der keinen kalt lassen konnte. Die Drohung mit Folter im Verhör, wie im Frankfurter Entführungsfall Jakob von Metzler. Gedroht hatte der damalige Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner. Im Roman heißt er Landau.
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Anhaltende Autogrammstimmung mit Ferdinand von Schirach im BE - Foto (C) Jamal Tuschick
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Jamal Tuschick - 17. September 2013 ID 7154
Ferdinand von Schirach | Tabu
256 S., geb., 17,99 €
Piper Verlag, 2013
ISBN 978-3-492-05569-7
Weitere Infos siehe auch: http://www.piper.de/buecher/tabu-isbn-978-3-492-05569-7
Post an Jamal Tuschick
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