Befreundete Plattenbauprinzessinnen
Stefanie de Velasco badet ihre Heldinnen in „Tigermilch“
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Stefanie de Velasco nach einer Lesung aus ihrem Roman Tigermilch auf der Bühne im Heimathafen Neukölln - Foto (C) Jamal Tuschick
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„Schreiben ist eine Mischung aus Singen und Husten, letztlich eine Art Auswurf“, sagt Stefanie de Velasco auf der Bühne im Heimathafen Neukölln. Die 1978 in Oberhausen geborene Autorin holt aus, früher habe ihr für den Auswurf die Disziplin gefehlt. Stefanie de Velasco hat Volkskunde studiert, sie sieht sich als Feldforscherin. Ihr Feld heißt Berlin. In Tigermilch, ihrem ersten, im Heimathafen in der Unmittelbarkeit seines Erscheinens gefeierten Roman, spielt zumal die Kurfürstenstraße eine Rolle. Da sei jedes dritte Geschäft „eine Fressbude“. Am U-Bahnhof Kurfürstenstraße blieben der Magistrale nur noch Verheißungen des Discount und die Versprechen der Nagel- und Massage-Szene. Hier liegt ein Revier befreundeter Plattenbauprinzessinnen. Die vierzehnjährigen Nini und Jameelah „üben für das echte Leben“. Sie spielen „Stadt Land Aids“, räsonieren über die unaufhaltsam sich ausbreitende Rosskastanienminiermotte und ziehen über Mitschülerinnen her, diese „wie mit Perwoll gewaschenen“ Annalenas. Nini und Jameelah wissen: vom „Sexgott zum Eisprung“ ist kurz. In Tigermilch werden Kaninchen von Tennisschlägern platt gemacht, die Freundinnen haben eine deutsche Variante von Verlan entwickelt, eine Silben drehende Sondersprache. Außerdem sagen sie Gold zu Geld, Folter für Filter und Falafel statt Waffel. Beispiel: „Der hat einen an der Falafel.“
Sie selbst sind „cool und pomade“. Nini und Jameelah klauen wie die Raben, nur raffinierter. Sie rappen ihr Weltbild. Die große Frage lautet: „Wann ist man erwachsen?“ Eine Antwort: „Wenn man anfängt, sich selbst Klamotten zu kaufen.“
Die Weisheit aus dem Schlussverkauf schreit nach Ringelstrümpfen. Darin geht der Berliner Pussy Riot zum Sex mit Zufälligen über, nach einer Dosis Tigermilch. Das Getränk setzt sich aus MM & M aka Müllermilch, Mariacron und Maracujasaft zusammen und wurde einst auf einer Schultoilette kreiert. Im Heimathafen Neukölln ist Tigermilch Pflichtmix fürs Publikum. Es erfährt: Jameelah droht Abschiebung. Sollte sie der amtlichen Maßnahme im Wege der Einbürgerung entgehen, will sie „eine Kartoffelparty“ geben. Im Übrigen ist die ethnische Differenz für Jameelah kein Thema von Interesse.
„Teenager sind die konservativsten Menschen der Welt“, verkündet die Autorin im Gespräch mit Literaturwissenschaftlerin Wiebke Porombka, die das Debüt routiniert bewirbt. Ob Stefanie de Velasco in Tigermilch den juvenilen Nerv getroffen – oder Distinktionsmarken verfehlt hat, kann ich in der Gnade meiner frühen Geburt noch nicht einmal spekulativ beantworten. Doch steckt in dem Buch genug Stoff für eine Debatte, die das alte Kinderlied vom Bahnhof Zoo neu vertont. Die Kurfürstenstraße endet auf einem Strich.
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Jamal Tuschick - 22. August 2013 ID 00000007077
Stefanie de Velasco - Tigermilch
288 Seiten
Euro (D) 16,99
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04573-4
Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/das-programm/einzeltitel/?isbn=978-3-462-04573-4
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