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Lesung

Thea Dorn war im BlueNote, Osnabrück




In ihrem aktuellen Roman Die Unglückseligen wagt sich die Schriftstellerin Thea Dorn an ein höchst komplexes Thema – der Bearbeitung des Fauststoffes, an den sich letztmals Thomas Mann ernsthaft gewagt hat. Das Streben nach Unsterblichkeit und danach, die uns naturgemäß aufoktroyierten Grenzen des menschlichen Daseins zu überwinden, sind zentrales Thema. Thea Dorn liefert eine ganz eigene Art der Bearbeitung, indem sie die gesellschaftstheoretischen Ansichten deutscher Romantik mit den wissenschaftlichen Kenntnissen unserer Gegenwart verbindet. Sie schildert die Begegnung einer deutschen Molekularbiologin, die ihrer Forschung an den genetischen Selbstheilungskräften von Zebrafischen in den USA nachgeht, da diese hier nicht den strengen Auflagen der Ethikkommission ihrer Heimat unterliegt, mit einem kauzigen Herrn, dessen Alter sie trotz ihrer beruflich bedingten Menschenkenntnis nicht einordnen kann. Im späteren Verlauf des Geschehens stellt sich heraus, dass es sich bei dem besagten Mann um Johann Wilhelm Ritter handelt, der als Zeitgenosse und geschätzter Kollege von Goethe, Novalis, Humboldt und Brentano u.a. zur Erforschung bahnbrechender wissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich UV-Strahlung beigetragen hat. Zunächst ungläubig ob des Alters dieses Mannes beschließt die Hauptprotagonistin Johanna schließlich, diese Begegnung als Wink des Schicksals zu sehen und das Genom ihrer neuen Bekanntschaft zu sequenzieren. Sie verspricht sich einen Erkenntnisgewinn, der ihr den Durchbruch in ihrem Forschungsfeld garantieren soll.

Im BlueNote, den gemütlichen Veranstaltungsräumlichkeiten des Programmkinos Cinema Arthouse, hatten sich also am Abend der Lesung zahlreiche Menschen eingefunden, um den Ausführungen der Autorin zu folgen, die einige Textpassagen vorstellte und bereitwillig Auskunft über ihre Arbeit an diesem Werk gab. Sie gab an vier Jahre an dem Manuskript für Die Unglückseligen gearbeitet zu haben. Zwei Jahre davon habe sie sich nach eigener Einschätzung in Klausur begeben, um ihre Recherchen zu Papier zu bringen. Zahlreiche Nächte habe sie sich mit den sprachlichen Eigenheiten der Protagonisten anhand von Korrespondenzen u.ä. auseinandergesetzt und schließlich sogar selbst den schlesischen Dialekt gesprochen, der Ritter zu seinen tatsächlichen Lebzeiten zu eigen war. Wirkungsvoll setzt Thea Dorn diesen Sprachgebrauch in ihrem Roman ein, um den einzelnen Charakteren Authentizität zu verleihen. Auch eine intensive Zusammenarbeit mit zwei Molekularbiologen und ein intensives Onlinestudium fachspezifischer Vorlesungen und Vorträge seien notwendig gewesen, um sich hinreichend in die Materie einzuarbeiten.

Das Publikum folgte gebannt den Ausführungen der sympathischen Autorin, die einige Anekdoten in Bezug auf ihre Recherchearbeit zum Besten gab und den Besuchern der Veranstaltung mehrfach ein Schmunzeln entlockte. Die Autorin gewährte zudem einen guten Einblick in ihr Schaffen, das große Leidenschaft für ihr Thema und die Liebe zur Geistesgeschichte generell deutlich erkennen ließ. Als bekennende Agnostikerin wies sie explizit daraufhin, wie sehr ihrem Empfinden nach die Grenzen zum Übernatürlichen verwischen, je intensiver man sich beispielsweise der Metaphysik widmet. Was zunächst als Widerspruch erscheint, ist jedoch eine Erkenntnis, die uns bei näherer Betrachtung nicht fremd sein dürfte. Berühmte Naturwissenschaftler wie Einstein gaben an im Zuge ihrer Forschungen „ins Angesicht Gottes“ geblickt zu haben. Es ist zu hoffen, dass dies, so faszinierend es auch ist, nicht auf einen Pakt im Faustschen Sinne begründet ist.

Thea Dorn lässt in diesem Kontext den moralischen Zeigefinger nicht vermissen, der mahnend erhoben wird, um den Menschen zum Nachdenken darüber anzuregen, ob es nicht vielleicht Grenzen der Forschung gibt, die wir bewusst nicht überschreiten sollten. Der Fauststoff beschäftigt die Gesellschaft seit mehreren Jahrhunderten und birgt nach wie vor dermaßen großes Diskussionspotenzial, dass es beinahe aktueller und substanzieller als je zuvor wirkt. Ein komplexes Thema also, das dem intellektuellen Anspruch Thea Dorns an ihre eigene Arbeit entspricht.

Bereits die Wahl des Künstlernamens der Autorin, die mit bürgerlichem Namen Christiane Scherer heißt, lässt erahnen, wie hoch dieser ist, denn sie wählte die Konstellation aus Vor- und Nachnamen als Hommage an den Philosophen Adorno. Diesem Anspruch wird die Autorin mehr als gerecht: Die Unglückseligen ist eine Liebeserklärung an das romantische Universalgenie und dystopischer Ausblick auf die Grenzen des Menschseins zugleich.


[Die Veranstaltung wurde von der Buchhandlung zur Heide im Rahmen der Lesungsreihe LITTERA organisiert.]
Sina-Christin Wilk - 7. April 2016
ID 9242
Infos zum Buch: http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Unglueckseligen/Thea-Dorn/e446553.rhd


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