Zum 21. Mal – der Open Mike wird generell ministrabel
Zwei Tage lang literarisches Streben & Scheitern im Berliner Heimathafen Neukölln
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Geschulte Blicke und ideale Fraktale
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Auf der Karl Marx-Straße jagen sich die Hochzeitskorsos, die Migration traut sich, ihre geputzten Daimler sehen aus wie Bonbonieren. Im Heimathafen erst einmal keine besonderen Vorkommnisse. Der 21. Open Mike serviert seine Überraschungen in homöopathischen Dosen. Die Stimmung zieht ihre Aspekte aus den gymnasialen Genres Klassentreffen und Casting, man schwänzt die ersten Lesungen auf dem Hof. „Weißt du noch, im letzten Jahr?“ wird wer gefragt.
Zuerst nehme ich Jens Eisel wahr, seine Geschichte könnte auf St. Pauli spielen. Der Held heißt Samir und wettet auf alles. Manchmal glaubt Samir, dass Glück habe ihn zu seinem persönlichen Gegner gemacht. Eisel hat Schlosser gelernt und Literatur studiert. Seine Geschichte ist kunstvoll reduziert, es fällt mir schwer, dass originell zu finden, in Anbetracht der in Leipzig und Hildesheim geschulten Dutzendblicke.
Ich sehe Fischer-Lektor Günther Opitz und Verleger Joachim Unseld – alte Hasen auf der Suche nach jungem Gemüse. Karl Wolfgang Flender ist der nächste Autor im Wettbewerb, er erzählt von einem Christoph, der in seiner Jugend nicht zum Zug kam, dann aber mächtig aufholte. Doch „ein Rest von Unsicherheit bleibt immer“, weiß der Autor. „Christoph hat eine dünne Haut“, sein kollegaler Beobachter trinkt Champagner. „Das Klirren der Gläser hängt in der Luft.“ Ich finde das Bild verbrauchter als die Luft im Heimathafen. Flenders Alter ego taumelt im Gatter der Konkurrenz, sein Gegner hält einen Vorsprung im Fitnessstudio. Er diskutiert die Feinzeichnung von Christophs Muskulatur und interpretiert das Dominanz-Repertoire des Kollegen: „Die Bloßstellung des Halses ist eine Demonstration von Stärke.“
Zwanzig Autoren, keiner älter als fünfunddreißig, rivalisieren zwei Tage lang um drei Preise, die der Open Mike seit 1993 alljährlich auslobt. Die Finalisten setzten sich in einem Feld aus 680 Bewerbern durch. Sie weisen beeindruckende Lebensläufe mit akademischen Laufbahnen und editorialen Meriten vor. Außenseiter sind nicht im Spiel. Die Sünden der Faulheit gehören der Vergangenheit. So heißt ein Roman von Ulrich Peltzer, der als Juror gemeinsam mit Jenny Erpenbeck und Raphael Urweider die Sieger bestimmt.
Die erste herausragende Stimme – Maren Kames. Ihr lyrisches Ich zirkuliert über einem ländlichen Idyll, zerschnitten von Schneestraße und Bahntrasse. Es hört mehr als es sieht von seiner Familie in einem Tal. Es wünscht sich eine Justierung des Schlafs „Richtung Süden“.
„Ich höre Tau von den Simsen, den Flusslauf vor dem Haus der Eltern, ... Ich höre unsere Mutter unseren/ Großvater füttern er ist vier und ballt die/ Hände in den Hosentaschen.“
Jeder Autor wird von einem Lektor vorgestellt, im Fall von Maren Kames besorgt Julia Graf die Vorstellung. Sie attestiert der Debütantin „kühle Intensität“. Nun habe ich eine Favoritin. Christian Schulteisz folgt ihr mit einer Geschichte über Selbstekel und Wut. Das sind Marcels Zustände. Er leidet unter der fürsorglichen Belagerung seiner Mutter. Mit ihrem Mastprogramm unterläuft sie jeden Befreiungsversuch. Selbst der Auszug in die erste eigene Wohnung verbleibt im Scheinbaren der Selbständigkeit. Schulteisz macht keine große Sache aus den Nöten seines Helden, ich höre ihm gern zu. Marcel schmeißt das vorgekochte Essen weg, er räumt seine Tiefkühltruhe und stapelt Tupperware zu Türmen. Marcel sieht sein Elternhaus aus dem Küchenfenster, er hadert mit seinem Leben in diesem mäkelnden Unterton, der ihn erzogen hat. So einer käme Janin Wölke bestimmt nicht in die Nähe von Betracht, die Autorin lodert förmlich. Julia Graf sagt sie an: „Wölkes Gedichte haben etwas Kriegerisches.“ „Wir treffen uns in Clubs mit Spielzeugnamen“, singt sie. „Man muss wie ein riesiges Maschinengewehr glänzen“, weiß sie. „Weil man in dieser Stadt geboren wurde, muss man in die Wunden ficken.“
Die poetische Person sieht einen „krassen Film am Toilettenrand“. Das passt zu meiner Assoziation. Wölke produziert Kurzfilme, sie überzeichnet die Stadt, „Heimat ist nichts“ ... „Schwarze Tiere hängen in den Bäumen“, sie ist die erste Kraftgeniale des Tages, eine Baal und inzwischen meine erste Wahl. Doch dann kommt Verena Fiebiger und hört sich noch besser an. Ihre Stimme ist ausgebildet, ein Stützpunkt der Schönheit. Das braucht Mut, ein Gedicht Amore zu nennen. Ein Reh spricht aus dem Eisfach. Fiebiger gibt alten Wörtern wieder Schwung. Nostalgisch sind ihre Titel. Achtundvierzig Stunden bis Acapulco ahmt vollendet die Gottfried Benn-Sentimentalität nach: „Und es war auch nicht Acapulco / nur ein Zimmer in Ravenna.“
Kames, Wölke, Fiebinger – in diesem Wettbewerb sorgen Dichterinnen für Spannung. Paula Schweers schließt sich mit „idealen Fraktalen“ an. In ihrem Seestück Die Insel treffen sich Cézanne und Bataille, das Licht und die Lust. Maritime Aussparungen koinzidieren mit Mundhöhlen und Rachenräumen, von Rauch geflutet. „Das Lachen“ erzeugt „ein Druckgefühl in der Kehle“, in Christian Preußers Coming out-Geschichte wartet das erzählende Ich vergeblich auf „den Rausch und die Befriedigung“ aus Gewalt. Günther Opitz stellt den Autor besorgt vor, Preußer kommt aus Wiesbaden. Seine hessische Mundart schleift die Silben, für den Erzähler und seinen lebenslangen Freund Jan sind „die Mädchen ein Irrtum“. Jans Mutter klärt ihre Buben auf. Wie sie im Vorschulalter bereits aufeinander abfuhren, bringt die Alte den Jungen in Erinnerung. Der schwule Nachwuchs sehnt sich nach „einer Tradition“, er säuft in den Dünen seiner letzten Sommerferien. Man spürt die Wucht des inneren Antriebs beim Autor. Der Antrieb vermindert die Kolonisierungsgeschwindigkeit. Anpassung ist gar nicht so einfach, aber Schreiben auch nicht.
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Foto (C) Jamal Tuschick
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Jamal Tuschick - 10. November 2013 ID 7353
Weitere Infos siehe auch: http://openmikederblog.wordpress.com/
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