Das bärtige Fräulein
Dichter im AUSLAND – ein Abend mit Schulz, Geist, Katkus, Roloff
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Das AUSLAND in Berlin - Foto (C) Jamal Tuschick
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Das Leben ahmt nicht nur die Kunst nach, sondern auch ihre Betrachtung. Auf einem Aushang düpierter Hybris lese ich: „Im besten Fall ist Lyrik überflüssig.“
Das Kompliment in dieser Aussage wird ihrem Urheber entgangen sein. Im Überfluss schwimmen Saus und Braus an grauen Ufern des Mangels vorbei. Jeder Überfluss mündet in einem Ozean voller lebender Fossile und Terrassen aus Abgesunkenem. Darin gibt es Pyramiden und Kegel und rauchende Kamine. Unerlöste Vulkane schwefeln Schulen der Delphine. Tom Schulz taucht aus seinem Ozean im AUSLAND auf. Das AUSLAND ist so ein Ort, den man seinem Besuch aus Bielefeld zeigt. Tom Schulz erinnert den Prenzlauer Berg als Schauplatz des Kalten Krieges in einem Gedicht. Ich hätte das Gedicht gern als Klage von krimineller Kälte, doch das ist es nicht. Ich glaube, es heißt Der schönste 29. November in Anspielung auf Thomas Braschs Der schöne 27. September. Man hat Brasch heilig gesprochen, auf einer Cour der Referenzen kann nichts mehr schief gehen.
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Tom Schulz - Foto (C) Jamal Tuschick
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„Der Winter macht Armeen aus uns“, singt Schulz im abendlichen Ausland. „Jetzt bin ich so alt, dass ich Teile von Frauen verstehe.“
Zu Fuß bleibt er Frauen auf den Fersen. Das lyrische Er folgt auf alpinen Straßen im Berg, „mit ihren ausgeraubten Augen“. So habe ich das noch nicht gesehen, das geplünderte Leben und die Offenbarungseide tauber Blicke. „Der Himmel am Mittag: ein Zeuge Jehovas ... Hier stand die Mauer.“
Tom Schulz bleibt Mauersegler, dafür sorgt seine Ostbiografie. Er weiß: „Dieser Diskurs über eine Mitte erklärt nichts.“ Ich sehe deutlich, „wie der Schimpanse meiner Innenwelt den Schirm aufspannt“.
Ja, die Kunst des Mittelalters hatte einen Zweck. Der Zweck band die Mittel. Kein Mittel hat mehr Zweck. Sylvia Geist meldet: „Halb verhungert im roten Anzug / das war ich“ ... in einer Verkettung von „Segen, Strafe oder das Leben“.
„Auf dem Bordstein hockt einer und bekennt alles dem toten Telefon.“ Der Satz passt zur Pause. Zum Rauchen geht man im AUSLAND vor die Tür. Hier stehen nur Dichter, die Dichtern zuhören, und Fotografen, die schon an Nachrufen feilen. Ich kannte ihn, wo er auch lebte. Publizierte in marginalen Zusammenhängen. Widerstand mit günstiger Miete auf halber Treppe. Man bewunderte ihn, um nichts von ihm lesen zu müssen.
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Versierte Gasthörer: Die Dichterin und Heiner Müller-Spezialistin Kristin Schulz und der Dichter Björn Kuhligk im Gespräch über Heiner Müller und Thomas Brasch - Foto (C) Jamal Tuschick
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Memento Mori im Portfolio
Im zweiten Durchgang startet Marcus Roloff. Er kommt aus Frankfurt und hätte eine Zugfahrt verschlafen können. Doch zog er es vor, der Fahrt ein paar Zeilen abzugewinnen. Sie entgehen meiner Aufmerksamkeit. In der lyrischen Kür tauschen Wahrnehmung und Empfindung die Plätze, die Empfindung prägt sich als Wahrnehmung ein. Bei Sylvia Geist spricht sich das „in der verführten Wirklichkeit“ aus, da gibt es keine Unschuld, „aber eine Schuld, die wir annehmen, weil wir sie tragen können“. Die Behauptung im Überfluss des Vers unterwirft die Realität: autorisiert von Ihrer Majestät, der Innenwelt. Folglich ist Dichter, wer seine Innenwelt der Außenwelt zur Verfügung stellen kann.
Laurynas Katkus stammt aus Vilnius, er deklamiert in seiner Sprache. Sie kommt zur Sache wie ein Marinechor. Tom Schulz empfiehlt sich für den Vortrag der Übersetzungen, unverzagt und aufgeräumt wie jeder Tapfere Schneider: „Ein empfänglicher Algorithmus zu sein, das ist unsere Sehnsucht.“ Die Zeile modernisiert Nâzım Hikmet: „Leben, einzeln und frei wie ein Baum, und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“
Katkus studierte litauische Philologie in Leipzig und Berlin und promovierte über das Exil als lyrischen Topos. Er dichtet wie Mandelstam: „Im Mund nichts als Zahnfleisch und Löcher / ... Es verneigt sich das bärtige Fräulein Depression“.
„Eine Melodie flackert wie eine Gaslampe“ ... „und was dich aufhält, bringt dich unmerklich weiter“. So ist es, es treibt alles zur Oberfläche, was nicht tiefer gehalten wird.
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Laurynas Katkus, Tom Schulz - Schulz liest Katkus und hat Spaß dabei - Foto (C) Jamal Tuschick
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Jamal Tuschick - 28. September 2013 ID 7195
Weitere Infos siehe auch: http://www.ausland-berlin.de/lyriklesung-geist-katkus-roloff-schulz
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