MARGA MINCO
Eine der letzten Zeitzeuginnen
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Marga Minco, 1981 | Foto: Hans van Dijk; Bildquelle: Wikipedia
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Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die etwa mit jungen Menschen über persönliche Erfahrungen infolge der Verbrechen des Nationalsozialismus sprechen können. Die prominente Holocaust-Überlebende Ruth Klüger verstarb 2020. Esther Bejarano, jüdische Überlebende des KZ Ausschwitz-Birkenau, starb 2021 nur ein Jahr später. Jüngst sorgte der tragische Tod eines Holocaust-Überlebenden durch einen russischen Raketenangriff in der ukrainischen Stadt Charkiw für Aufsehen. Der 96-jährigen Boris Romantschenko, Überlebender von vier Konzentrationslagern, wurde in seiner Wohnung in einem mehrstöckigen Haus aufgrund des Bombenangriffs getötet.
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Eine wichtige Zeitzeugin aus den Niederlanden feiert morgen ihren 102. Geburtstag. Die jüdische Niederländerin Marga Minco erzählt autobiographisch grundiert in kurzen Romanen vom Beginn der Judenverfolgung in den Niederlanden und von den existentiellen Nachwirkungen für die Überlebenden von Verhaftungen und Deportationen.
Das bittere Kraut, der Debütroman Marga Mincos (1957 in den Niederlanden erschienen) ist sicherlich eine gute ergänzende Schullektüre zum Tagebuch der Anne Frank (1947). Die Zeitzeugin berichtet in ihrer kleinen Chronik sachlich und eindringlich vom Schicksal ihrer Familie nach 1940. Trotz der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg glaubt sich ihre Familie zunächst in trügerischer Sicherheit. Doch schon bald werden sie, ihre Eltern und ihre Geschwister offen angefeindet und bedroht. Plötzlich werden die Ich-Erzählerin und ihr Bruder von wohlmeinenden jüdischen Bekannten dazu angehalten auszuwandern. Judenfeindliche Bestimmungen der Besatzer reißen die Familienangehörigen schließlich gewaltsam auseinander. Die damals Zwanzigjährige kann fliehen, wird verfolgt, muss sich verstecken. Ihr Leben wird fortan von bangen Angstgefühlen bestimmt.
Später findet sie als Mittzwanzigerin heraus, dass nahezu alle Angehörigen ermordet wurden. Der mit 22 knappen Kapiteln schmale Band handelt auch von den Schuldgefühlen der Ich-Erzählerin als letzte Überlebende einer Großfamilie. Marga Minco erhielt 2019 den P.C.-Hooft-Preis, der bedeutendste Oeuvre-Preis für Literatur in den Niederlanden. Marlene Müller-Haas übersetzte Das bittere Kraut 2020 für den Wiener Arco Verlag neu, zusammen mit anderen wiederzuentdeckenden Werken der Autorin.
Marga Mincos Ein leeres Haus (in den Niederlanden 1966 erstveröffentlicht) ist sozusagen der Nachfolgeroman zur Vorgeschichte in Das bittere Kraut. Er handelt vom schmerzlichen Erinnern einer Ich-Erzählerin, die den Holocaust in einem Amsterdamer Versteck überlebte: „Du bist nirgends. Auf die Dauer beginnst du es selbst zu glauben oder an dir zu zweifeln.“ heißt es da. Nach dem Krieg denkt sie oft an den schmerzhaften Verlust ihrer Familienangehörigen:
„Was hatte ich getan, was würde ich noch tun, das eine gewisse Bedeutung hatte und bewies, dass es einen Sinn hatte, dass wir noch da waren und die anderen nicht mehr? Die Zwillinge von Onkel Max von Assen sind nicht älter als acht Jahre geworden. In Sobibór vergast. Es sind aufgeweckte Kinder, sagte meine Mutter einmal, nachdem sie ein paar Tage zu Besuch gewesen waren, sie können schon lesen, bevor sie in der Schule sind.“ (Marga Minco, Das bittere Kraut, S. 130)
Es werden drei Tage der jungen Holländerin in der Nachkriegszeit beleuchtet; der 28. Juni 1945, der 25. März 1947 und der 21. April 1950. Ein leeres Haus unterscheidet sich stilistisch von Das bittere Kraut, wenn die Autorin spannungsvoll bruchlos zwischen Gegenwart und qualvoller Vergangenheit springt. Die Ich-Erzählerin holt so das Gestern zurück in das Jetzt, wenn sie etwa darüber nachdenkt, dass ihr Lebens- und Fluchtpartner Amsterdam 1947 nicht verlassen möchte, um in ein anderes Land zu gehen:
„Ich verstehe das. Er will nicht, er will in Amsterdam bleiben. Es gibt »Wichtiges« zu tun, das hat er schon oft gesagt. Aber er meint etwas anderes als im Hungerwinter, als wir aufeinander angewiesen sind, ständig zusammenhocken, ganze Tage in dem großen Bett verbringen, zusammen ins Versteck kriechen, wenn eine Razzia ist, die Angst teilen und danach die Erleichterung, und reden, darüber reden, was wir nach dem Krieg tun werden, wie wir leben werden, wohin wir gehen werden.“ (Marga Minco, Ein leeres Haus, S. 74)
Es kommt nach Kriegsende keine Befreiungsstimmung auf. Zu nah sind die Erlebnisse der Flucht und der Verlust der Familie, um sich davon zu lösen. Gleichzeitig ist es auch den Begegnungen der Erzählerin ein Bedürfnis, etwas über ihre Umstände in Kriegszeiten, wie beispielsweise den Hungerwinter 1944/45, zu erfahren:
„Sie wollte alles über die Kirche mit den Leichen wissen, die Männer mit den Ratschen, die Ödemkranken auf den Treppen des Königspalastes und über die ausgemergelten Kinder, die mit ihren kleinen Töpfen zur Garküche gingen. Ich erzählte es ihr bis ins kleinste Detail. Über das gefilterte Fett, von dem wir Durchfall bekamen, die fauligen Mooskartoffeln, das Brot, das wie nasser Ton war; über die Schwären und offenen Beine. Mir schien es eine Möglichkeit, ihr etwas zurückzugeben.“ (dto., S. 42)
Wie uns Marga Minco die damalige Zeit und die Trauerarbeit ihrer jungen Ich-Erzählerin näherbringt, ist wahrlich eine große Gabe.
Auch Nachgelassene Tage erschien 2020 beim Arco Verlag aus dem Niederländischen übersetzt. Das Alterswerk wird ebenfalls aus der Sicht eines alter Egos der Schriftstellerin erzählt. Nachgelassene Tage erinnert an die Abwesenheit von Familienangehörigen aufgrund der Deportationen vor über einem halben Jahrhundert.
Für eine lebendige Erinnerungskultur sind Marga Mincos Kurzromane eine kostbare Fundgrube; allemal zeugen die authentischen und eindringlichen Aufzeichnungen von einer wiederzuentdeckenden Stimme der Literatur.
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Ansgar Skoda - 30. März 2022 ID 13550
Marga Minco im Arco Verlag
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