Alice Schwarzer
las aus ihrem
Lebenswerk
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Foto © Ansgar Skoda
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Alice Schwarzer gilt als bekannteste deutsche Feministin. Die 77jährige begreift sich aber selbst vor allem als Journalistin. Vor wenigen Tagen kam der zweite Teil ihrer Autobiografie - Lebenswerk (2020) - heraus. Der erste Teil, Lebenslauf, erschien bereits 2011 ebenfalls beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch. Ihr dortiger Lektor und Verleger Helge Malchow, bis 2018 auch Verlagsleiter, sprach mit Schwarzer bei der Kölner Buchpremiere über die Inhalte und Entstehung des Werkes. Die Wahl-Kölnerin und gebürtige Wuppertalerin äußert sich in ihrem neuesten Buch zu aktuellen politischen, gesellschaftlichen und religiösen Themen. Auch spricht sie während der Lesung offen über Anfeindungen, denen sie ausgesetzt ist. Sie erzählt von Begegnungen mit prominenten Menschen wie Angela Merkel und von journalistischen Arbeiten, wie etwa als Herausgeberin und Geschäftsführerin der seit 1977 erscheinenden feministisch-politischen Publikumszeitschrift EMMA, ansässig am Kölner Bayenturm. Ausgerichtet wurde die Lesung vom Kölner Literaturhaus, das in den letzten Jahren regelmäßig namhafte Autorinnen einlud, wie etwa Katja Lange-Müller 2016 mit ihrem Roman Drehtür. Aufgrund der Corona-Auflagen waren nur wenige Plätze im ausverkauften Kölner Schauspielhaus besetzt.
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Alice Schwarzer wuchs bei ihren Großeltern auf. Lebenslauf (2011) widmete die Publizistin noch ihrem Großvater Ernst Schwarzer, dem sie als Kind näher stand, als ihrer Großmutter. Eingangs meint sie: „Komisch, dass man so Feministin wird!“ Lebenslauf handelte noch von ihrer Geburt, Kindheit, Jugend und den beruflichen Anfängen wie der Gründung von EMMA. Den zweiten Teil der Autobiografie widmet sie nun ihrer Großmutter Margarete. Hierin diskutiert Schwarzer in jeweils eigenen Kapiteln über die Burka, junge Muslim/innen und Prostitution. Sie schreibt über Schröder, Bushido oder Daniel Cohn-Bendit. Während Schwarzer die ersten Seiten ihres Buches vorliest, kommentiert sie oft das Geschriebene. Sie überschlägt regelmäßig ein paar Seiten.
Bald wechselt sie zu einem Kapitel über Angela Merkel, die sie persönlich auch vor der Kanzlerschaft mehrmals getroffen hat. Sie erinnert an die Zeit, wo Merkel 1991 als Familienministerin mit ihren Bemühungen um mehr Gleichstellung der Geschlechter in der Öffentlichkeit aneckte. Schwarzer sagt über die promovierte Physikerin und heutige Bundeskanzlerin: „Damals galt sie als naiv wirkende Frau aus dem Osten.“ Doch Merkel, die sich in den 90ern in Gesprächen mit Schwarzer von der UN-Frauenkonferenz beeindruckt zeigte, setzte sich gegen häusliche Gewalt ein. Gesetze wie gegen die Vergewaltigung in der Ehe und gegen körperliche Bestrafung von Kindern setzten sich erst 1997 bzw. 2000 durch. Merkel steht Schwarzer zufolge für eine hochmoderne und emanzipierte Familienpolitik. Schwarzer betont, dass rechtlichen Änderungen oft nur eine kleine Verbesserung sind und die eigentliche Gewalt und ihre Ursachen nicht beseitigen. Auch die heutige Familienministerin Franziska Giffey warnte so jüngst aufgrund der Einschränkungen der Corona-Krise vor häuslicher Gewalt. Schwarzer: „Als gehe es um schlagende Häuser! Da bemerkt man die Einschränkungen der deutschen Sprache.“ Die vielfach ausgezeichnete Journalistin meint, dass Merkel vielen Deutschen nach sechszehnjähriger Kanzlerschaft fehlen werde, obwohl ihr zuletzt die Frauen verloren gingen. Denn die Quote der weiblichen Abgeordneten sei in der CDU und CSU-Bundestagsfraktion seit Beginn von Merkels Kanzlerschaft sichtlich zurückgegangen.
Schwarzer spricht über ihre Beweggründe, warum sie den Fall des Jörg Kachelmann ausgerechnet für die BILD-Zeitung kommentierte. Kachelmanns langjährige Freundin und Geliebte hatte den Wettermoderator der schweren Vergewaltigung angeklagt. Schwarzer nahm das Angebot an, das Verfahren für die BILD zu kommentieren, weil alle anderen Zeitungen bereits Position für Kachelmann bezogen hätten. Es war ihr wichtig, das Verfahren unter den Vorzeichen einer Unschuldsvermutung bei der Freundin zu kommentieren. Kachelmann wurde 2011 freigesprochen. Alsbald wechselt Schwarzer das Thema und meint, im Ausland werde sie eigentlich immer auf die Silvesternacht in Köln angesprochen. Bekannte werfen ihr für das 2016 herausgegebenes Buch Der Schock. Die Silvesternacht in Köln (2016) heute noch vor, sie sei rechtsradikal. Das Buch enthält u.a. Beiträge von vier muslimischen Autoren, von denen insbesondere der Beitrag von Kamel Daoud internationale Bekanntheit erlangte. Wenn sich 2.000 Männer aus Nordafrika und Nahost verabredeten, spreche das für ein zielgerichtetes Vorgehen, so Schwarzer. Sie würde an dem Buch bei einer neuen Auflage kein Komma ändern. Auf die Frage, ob der Feminismus die Gefahr enthalte fremdenfeindlich zu werden, meint Schwarzer, man solle den Glauben nicht in Geiselhaft nehmen, aber Freiheiten seien nie gesichert. Doch die ersten Opfer radikaler Muslime seien stets die nicht radikalen, betont sie.
Mit Helge Malchow spricht die Autorin darüber, dass sie auch in dem zweiten autobiografischen Werk nur Schlaglichter zu setzen vermöge, da in den neun Jahren nach Lebenslauf sehr viel mehr passiert sei. Schwarzer erklärt, auf ihren Status als öffentliche Feministin angesprochen, dass es vor ihr viele andere Feministinnen und Pionierinnen der Emanzipation gab. Im Zuge des Nationalsozialismus seien jedoch viele Vordenkerinnen, präsente und öffentliche Feministinnen hierzulande von der Bildfläche verschwunden. Am Ende dürfen auch die Zuschauer Fragen stellen. Ich frage Schwarzer, wie sie mit Kritik seitens anderer Feministinnen wie Charlotte Roche an ihrer bundesweiten Image-Kampagne für die BILD-Zeitung vor etwa zehn Jahren umgehe. Schwarzer meint dazu: „Kinder, habt ihr keine anderen Sorgen?“ Doch sie gesteht ein, dass sie auch nicht immer Recht habe. Sie spricht noch über ihren Umgang mit medienwirksamer Kritik der internen Verhältnisse bei EMMA und ihre widersprüchlich-freundschaftliche Beziehung zu Kardinal Meisner. Schwarzer äußert sich zu den heftigen Vorwürfen der Transphobie gegenüber Joanne K. Rowling. In einer Debatte, in der Rowling die Bedeutung des biologischen Geschlechts betonte, geriet die Harry Potter-Autorin in die Defensive. Schwarzer findet dies skandalös: „Das Geschlecht definiert nicht den Menschen. Doch im Alltag spielt es eine fundamentale Rolle, welches Geschlecht wir haben. Die Realität wird ganz oft mit einer Utopie verwechselt.“ Sie gesteht, dass ihr Diskussionen auf akademischem Niveau zum nicht binären Geschlechtskonzept ferner liegen als ein Gespräch mit der Kassiererin in ihrem Lieblingssupermarkt. Zu Plänen einer Verfilmung ihres Lebens möchte sie sich nicht äußern. Als ihr erklärtes Ziel sieht Schwarzer den Menschen und die ganze Klaviatur des Menschseins. Bei Frauen bewundert Schwarzer, wenn sie kühn und mutig sind. Bei Männern imponiert ihr, wenn sie einfühlsam und fürsorglich sind.
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Ansgar Skoda - 24. Oktober 2020 ID 12553
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