Carolin Emcke
las aus Ja
heißt ja und…
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Carolin Emcke bei ihrer Lesung in Köln | Foto © Ansgar Skoda
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Der Hashtag #Metoo förderte eine öffentliche Diskussion um sexualisierte Gewalt, Macht und Geschlechterrollen. Carolin Emckes etwa 110-seitiges Buch Ja heißt ja und… versammelt Miniaturen und Fragmente, die die „Me too“-Debatte als Ausgangspunkt für Gedanken über Sexismus, Missbrauch und Diskriminierung und weit darüber hinaus nehmen. Schon der Titel des Bandes möchte den Gedankenraum für Freiheit, Lust und Liebe öffnen und deutet ein Plädoyer für Diversität an.
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Emcke las nun im Rahmen des Diversity-Festivals "Britney X" in der Spielstätte Offenbachplatz vom Kölner Schauspiel. Bei über 30 Grad lagen am vergangenen Samstag kostenlose Wasserflaschen vor dem nichtklimatisierten Lesungsraum aus. Sie fanden schnell Abnehmer, denn die Lecture-Performance war Wochen im Vorfeld ausverkauft. Auf der Bühne standen ein Lesepult mit einer Mappe und ein hoher Stuhl. Emcke trat im schwarzen Hemd, schwarzer Jeans und mit weißen Turnschuhen auf. Es folgte ein Vorlese-Vortrag unterbrochen von kurzen Musikpassagen. Emcke spielte über einen aufgestellten Laptop unter anderem Ausschnitte aus Schostakowitschs Streichquartett und aus Songs von Bobby McFerrin, Terry Riley und der Rapperin Young M.A. ein. Auf die Rückwand wurden regelmäßig Schwarz-Weiß-Bilder mit unfertigen, schattenhaften Körpern projiziert.
Die Friedenspreisträgerin und Bestsellerautorin bezeichnete sich einleitend als „queer“, weil sie es schon von Kindesbeinen gewohnt sei „die Normen zu kreuzen“. Die promovierte Philosophin problematisierte, dass das Schweigen, das sexuellen Missbrauch meist begleitet, oft schon bei den Warnungen in der Kindheit beginne. So wurde ihr als Kind nicht erklärt, wovor sie denn eigentlich gewarnt wurde, wenn ihre Mutter ihr einbläute, dass sie nicht einfach mit fremden Erwachsenen mitgehen dürfe. „Lass Dich nicht mitschnacken“, meinte ihre Mutter bloß, was gleichbedeutend damit war, sie solle sich von niemanden ansprechen lassen.
Emcke verknüpft in ihrem theoretischen Werk persönliche Anekdoten mit gesellschaftlicher Analyse und Reflexion. Sie kritisiert etwa das altbackene und begrenzte Familienbild der AfD anhand eines Blickes in deren Parteiprogramm. Eine weitere Projektion verdeutlicht Erhebungen des Familienministeriums zu alarmierenden Zahlen von Opfern häuslicher Gewalt in Deutschland. Emcke erzählt über persönliche Erfahrungen, Empfindungen und Erkenntnisse. Es geht ihr darum gewohnte Denkmuster zu durchbrechen. Slogans wie „balance ton porc“ („Verpfeif dein Schwein“), der französischen Pendant-Bewegung zu #metoo, entlarvt sie als unpassend. Verbindungen wie »mein« Täter, »mein« Vergewaltiger und »mein« Belästiger findet sie fatal. So zitiert sie aus ihrem Buch: „»Wounded attachment« hat die politische Theoretikerin Wendy Brown das genannt, die Anbindung an die eigene Verwundung. Dabei ist es genau das, was sich lösen müsste, woraus man sich herauslösen und befreien will, aus dem Zugriff der Macht.“
Emcke berichtet, wie sie als Journalistin telefonisch Anerkennung vom Herausgeber entgegennahm. Die halbe Redaktion versammelte sich überraschend in ihrem Büro, als sie den Anruf entgegennahm. Anschließend bat der Ressortleiter sie, sie begleiten zu dürfen, falls der Herausgeber sie zu sich nach Hause eingeladen haben sollte. Emcke gibt Fragen wider, die ihr diesbezüglich durch den Kopf gingen: Hätte Sie der Herausgeber vor Ort im Bademantel erwartet? Warum wusste die ganze Redaktion von Übergriffen, sprach sie aber nie an? Sie berichtet von einem Jungen in einem Wärterhäuschen, den sie 2001 in Kabul traf. Erst Jahre später begriff sie, dass dieser Junge, den sie in ihrer Lesung Naim nennt, als Privatgefangener der Nordallianz sehr wahrscheinlich auch Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen war. Warum hatte sie lange Jahre Missbrauchsopfer immer nur weiblich denken können?
Emcke spricht offen über die eigene Hilflosigkeit, Situationen richtig beurteilen und angemessen reagieren zu können. Warum schwieg sie selbst gegenüber dem Ehemann ihrer Freundin, der diese zuvor in einem Nebenraum geschlagen hatte? Sie fordert in ihrem analytisch ausgefeilten Band Achtsamkeit im Miteinander. Es geht ihr um differenzierte Wahrnehmung und Bewusstwerdung, eine Gesprächskultur des Zuhörens und erst danach auch um Veränderung. Leider thematisiert sie die #MeToo-Debatte selbst kaum. Es geht ihr nicht darum, was diese bewirkt hat oder eben nicht. Sie grenzt sich von dem durch Thilo Sarrazin geprägten reaktionären Begriff eines vermeintlichen „Tugendterrors“ für das Veröffentlichen von Übergriffen ab. Gerne hätte der eine oder andere hierzu Fragen gestellt. So wäre es etwa interessant gewesen, den kritisierten Begriff „Tugendterror“ abzugrenzen gegen eine Aktion, die im vergangenen Jahr an einer Berliner Hochschule stattfand: das von Eugen Gomringer stammende Gedicht avenidas befand sich an der Fassade dieser Hochschule und wurde auf Betreiben des AStAs übermalt, nachdem es eine bundesweite Debatte um Sexismus und Kunstfreiheit ausgelöst hatte. Leider verzichtet Emcke darauf, ihr Publikum in die etwas selbstreferentielle Lesung einzubeziehen. So konnte man der Autorin erst nach der Lesung Fragen stellen, als sie ihre Werke für interessierte Besucher signierte. Trotzdem ein sehr anregungsreicher Abend.
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Ansgar Skoda - 3. Juli 2019 ID 11544
Link zum Buch von Carolin Emcke
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