Jaroslav Rudiš
las aus
Winterbergs
letzte Reise
|
Jaroslav Rudiš bei seiner Lesung in Bonn | Foto © Ansgar Skoda
|
„Ich brauche den ersten Satz, den Anfang und das Ende. Dann kenne ich die Wegstrecke“, meint der studierte Historiker Jaroslav Rudiš während einer Lesung in der Bonner Fabrik 45. Der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller arbeitete als junger Mann viele Jahre als Zugbegleiter in Grenzgebieten. Schon während dieser Fahrten las und schrieb der mittlerweile 47jährige Tscheche viel. In seinen Werken arbeitet er oft wie mit Netzen. Er finde narrative Streckennetze wie Eisenbahnnetze für die Historie. Dabei fährt Rudiš in seinem eigenen Berufsleben gerne auch mehrgleisig; so schreibt er in mehreren Sprachen, tourt als Musiker mit einer eigenen Band und arbeitet auch als Dramatiker und Drehbuchautor. Sein erster in Deutsch verfasster Roman Winterbergs letzte Reise (2019) schaffte es jüngst auf die Shortlist für den Leipziger Buchpreis. Hieraus las er jetzt bei einer vom Literaturhaus Bonn und der Literaturshow NRW ausgerichteten Veranstaltung.
Moderiert wurde die Lesung von Dorian Steinhoff, selbst freier Autor. Aufgelockert wurde sie noch zusätzlich von Miriam Berger, die ein charmantes Debüt als sogenannter Sidekick gab. In der Reihe der Literaturshow NRW wird gerne auch Lyrik zum Thema Europa zitiert. Berger gelang ein lebendiger Vortrag von Schillers Ode an die Freude (1785). Steinhoff erinnert daran, dass Schillers Gedicht auch eine Hymne und ein Trinklied war.
*
Auch der Erzähler Jan Kraus in Winterbergs letzte Reise hat einen Hang zum Alkohol. Rudiš‘ Roman erzählt aus der Perspektive eben jenes Altenpflegers von dessen Begegnung mit dem 1918 geborenen Wenzel Winterberg. Kraus begleitet Sterbende in ihren letzten Tagen und Stunden. Er soll auch den gelähmt und abwesend wirkenden 99-jährigen Winterberg in seinen letzten Tagen beiwohnen. Doch als Kraus Winterberg von seiner Heimat Vimperk (dem früheren Winterberg im Böhmerwald) erzählt, gelingt es ihm, Winterbergs längst verloren geglaubte Kräfte zurückzuholen. Winterberg will mit Kraus eine letzte große Reise antreten. Ein Railroad Trip beginnt und wird zu einer Odyssee in die Vergangenheit.
Winterbergs letzte Reise betrachtet die Banalität des einzelnen kleinen Lebens vor dem Hintergrund der großen Umwürfe der Zeitgeschichte. Rudiš nutzte für seinen Roman auch einen Baedeker-Reiseführer, der ebenso alt ist wie die Titelfigur. Dies verbindet der Autor dann mit der Geschichte seines Protagonisten, der oft wie ein wandelndes Lexikon spricht. Die historischen Anfälle Winterbergs grenzen manchmal auch an Hysterie. Winterberg wird von der großen Geschichte okkupiert. Die Vergangenheit ist immer noch da und hat Auswirkungen auf ihn im Heute. Der Grundton des Romans ist melancholisch. Doch die Melancholie wird stets mit einer Prise Humor gewürzt. Die Protagonisten erleben und sehen viel, sie verlaufen sich, stoppen jedoch nie.
Rudiš liest den Anfang des Romans vor, der direkt experimentell beginnt. Es wird nichts erklärt; es gibt keine richtige Vorgeschichte; man ist direkt mitten im Geschehen. Der Rhythmus der Sätze klingt zuweilen wie das Rattern eines Zuges. Der Roman spielt im tiefsten Winter. Es wird ein Tableau entworfen. Eine entstehende Nähe zwischen den beiden recht unterschiedlichen Protagonisten schafft Spannung. Winterbergs letzte Reise mutet wie eine reine Männergeschichte an. Beide Protagonisten haben zunächst auch Geheimnisse voreinander.
Man gerät beim Zuhören in einen unterhaltsamen Sog. Winterbergs Vorwürfe gegen Kraus und seine Worte wiederholen sich. Im Alter von stolzen 99 Jahren sei es Winterberg jedoch auch gegönnt, zu lamentieren. Immerhin befindet er sich auf einer langen und strapaziösen Reise. Der textimmanent eingebettete historische Anekdotenreichtum scheint schwer überprüfbar. Während die Gedanken Winterbergs ständig kreisen, flüchtet sich Kraus vor den anstrengenden Zwiegesprächen mit dem störrischen Alten in den Alkohol. Es wird mehrfach die Möglichkeit der Flucht aus der Reise entworfen und verworfen. Als eine Frau in Kraus Leben trifft, nimmt die Geschichte eine Wende. Wie sollte es anders sein, auch eine Modelleisenbahn spielt im Roman eine Rolle; als Symbol der Industrialisierung und plötzlichen Möglichkeit grenzüberschreitender Fortbewegung.
* *
Während der Lesung gab es eine Reihe von besonderen Programmpunkten. Bei „Mimikry – Das Spiel des Lesens“ trat so etwa das Publikum in einen Wettbewerb mit dem Podium. Steinhoff und Rudiš imitierten Romananfänge von Klassikern wie Houellebecqs Elementarteilchen, Preußlers Krabat und Schlinks Der Vorleser recht glaubwürdig. Miriam Berger las jeweils drei mögliche Anfänge des Romans vor. Dann durfte das Publikum raten, welcher Anfang tatsächlich vom Original ist. Während bei Elementarteilchen und Krabat jeweils die Mehrheit des Publikums auf Rudiš Version tippte, wurde bei Der Vorleser tatsächlich von den meisten Besuchern das Original erkannt. „Traurig, traurig,“ würde Winterberg sagen, lacht Rudiš. Auch „The plot is hot“ wurde während des Events enthusiastisch gespielt. Hier wurden Rudiš vom Plenum Wörter vorgegeben, mit denen er frei eine Geschichte für einen Roman improvisieren sollte. Sowohl der Tod als auch das liebe Bier sollten in einer „confessional memoir“ eine Rolle spielen. Rudiš schlug sich wacker. Doch jemand aus dem Publikum rief, hier imitiere Rudiš wieder Winterberg ein bisschen.
Zum Abschluss signierte Rudiš noch zahlreiche Exemplare seiner Werke für die interessierten Lesungsbesucher; natürlich mit einem eigens eingezeichneten Streckennetz und dem Ausruf „Gute Fahrt!“ Übrigens plant Rudiš im kommenden Jahr erneut einen Reiseroman bei Luchterhand zu veröffentlichen, diesmal jedoch ein Graphic Novel.
|
Ansgar Skoda - 18. Juni 2019 ID 11511
Link zum Roman Winterbergs letzte Reise
Post an Ansgar Skoda
skoda-webservice.de
Autorenlesungen
Buchkritiken
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|