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Schreiben gegen den Weltuntergang 2012 (Wettbewerbsbeitrag)


DIE BOTSCHAFT


von Brigitte Siegenthaler


Er stand am Bahnsteig. Noch drei Minuten, dann war es soweit. Sein Bündel lag neben ihm auf dem Boden. Er starrte auf den Fallblattanzeiger. Noch war er leer. Er wartete auf die Botschaft. Seine Botschaft! „Meine Hinrichtung? Meine Erlösung?“ Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts mehr. „Wie bin ich zum Bahnhof gekommen? Warum bin ich hier?“ Er wusste nichts mehr. Nur noch eines. Er musste auf die Nachricht warten, die auf der Anzeigetafel des Bahnhofs erscheinen würde. Er spürte, dass es keine gute Nachricht sein würde.

Er sah sich um. Niemand war zu sehen. Er war ganz alleine. Er fror. Er zog seinen Mantel enger um sich, aber es wurde ihm nicht wärmer. Wieder ging sein Blick zum Anzeiger. Nichts.

Plötzlich klappte eines der kleinen blauen Plättchen um: Ein S! „S“, schoss ihm durch den Kopf: „Schreiben, schreien, Sommer, sauber, Schweinestall - das macht alles keinen Sinn.“ Er starrte gebannt auf die Tafel. „Wann kommt der zweite Buchstabe? ST, SI, SO – was wird es sein?“ Immer noch keine Bewegung an der Tafel. Jetzt - ein Klappern! Ein T erschien. „ST! Stimme, Stolpern, Strand, Sterben… STERBEN?“ Es schoss ihm heiß und kalt durch den ganzen Körper. Er erinnerte sich. Seine Bestimmung sollte doch auf der Anzeigetafel erscheinen! „Wer hat das gesagt?“ Daran hatte er keine Erinnerung. „Meine Bestimmung! Doch nicht sterben?“ Nach einer Ewigkeit der dritte Buchstabe: E. „Nein! Ich will nicht sterben!“ Fieberhaft suchte er nach weiteren Möglichkeiten: „Sterne, stehlen, steil, stehen, Stecknadel… aber was hat das mit Bestimmung zu tun?“ Wieder ratterte es leise an der Tafel: Ein R. Ein Schluchzen entfuhr ihm: „STER…?“ Es schien keine andere Möglichkeit zu geben als das Lebensende. „Warum?“ Eigentlich wollte er gar nicht mehr zum Anzeiger hochsehen. Aber natürlich starrte er nach oben. Da – der nächste Buchstabe: B. Nun war alles klar. Er sackte innerlich und äußerlich zusammen. „Meine Bestimmung - das Sterben?“ Das folgende E beachtete er kaum noch. Dann das N. In ihm mobilisierten sich alle Kräfte, und ein Schrei hallte über den Bahnhof: „Ich will nicht sterben! Nein!“ Dann brach er zusammen. Ein Mann auf den Knien, Kopf am Boden, heulendes Elend. Ein plötzliches Rattern riss ihn aus seiner Trance. Ein weiterer Buchstabe! Ein Abstand und ein N! „STERBEN N… Was soll nun das?“ Verständnislosigkeit, aber auch aufkeimende Hoffnung. Ein A, ein C, ein H. „STERBEN NACH? Sterben nach was? Sterben nach dir? Sterben nach zehn Jahren? Sterben nach einer Krankheit?“ Die Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Kreuzten sich, wirbelten herum. Abstand, neuer Buchstabe: L. „STERBEN NACH L…?“ Plötzlich war sein Kopf ganz leer. Er hatte keine Idee mehr, was diese Botschaft ihm sagen wollte. Er hatte keine Kraft mehr zu denken und keine Kraft mehr zu fühlen. Er wollte nur noch, dass es zu Ende ging. Ein E: „STERBEN NACH LE…?“ Ein B, ein E, ein N – Stille. Sein Blick ging hilflos nach oben: „Sterben nach Leben? Was bedeutet denn das jetzt? Für ihn? Jedes Leben endet doch im Sterben?“ Er fühlte sich leer, erschöpft, verunsichert, kraftlos. Lange Minuten hockte er zusammengesunken auf dem leeren Bahnsteig. Ein Geräusch von oben ließ ihn zusammenfahren. „Was ist das? Da sind ja gar keine neuen Buchstaben!“ Enttäuscht ließ er den Kopf wieder sinken. Doch etwas ließ ihn innehalten. Stutzen. „Warum hat es gerattert?“ Erneut ging sein Blick nach oben. Diesmal schaute er genauer hin. Ungläubiges Staunen. Zuerst in seinen Augen, dann in seinem ganzen Gesicht. Er lächelte. Er hatte seine Bestimmung gefunden! Erneut ging sein Blick zur Anzeigetafel. Freudig las er: „STREBEN NACH LEBEN.“

Er nahm sein Bündel und verließ den Bahnhof.



(C) Brigitte Siegenthaler






Die 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge (alphabetische Reihenfolge):

Beckmann, Max - Ideen gegen den Untergang/Szenario 17b

Büschgens, Andrea - Zeitenwende

Friedrich, Silvia - Faschingsdienstag 2012

Kornberger, Ruth - Yoginis

Krapf, Joël - Weltuntergang ohne mich

Messerschmidt, Nadine - Weltpremiere

Oppermann, Swantje - Piet

Peter, M. - Bekenntnis eines Irren

Politgurke - Der Weltuntergang ist teilweise vorläufig
(Finanzamt Köln-Ost)


Scharley, Melanie - Einfach vergessen

Siegenthaler, Brigitte - Die Botschaft

Wieland, Kai - Flight 19









HOTSQUAT CALENDAR 2012 / Januar, Die Entdeckung des Feuers - Foto (C) Antal Thoma


Kurzgeschichtenwettbewerb - 21. Januar 2012
ID 00000005709
HOTSQUAT CALENDAR 2012

HERAUSGEBERIN / EDITEUR: HotSquat Collectif / Wydenauweg 40 / 2503 BielBienne / http://www.hotsquat.ch / calendar@hotsquat.ch / PC 12-172563-8
ALLE FOTOGRAFIEN BY: by Antal Thoma / http://www.antalthoma.ch
CONCEPT ET REGIE: HotSquat Collectif et les lieux accueillants / und die Gastorte
GRAPHIK: Johan Katz / http://www.mkkm.name
EDITION: 1500 ex.
PRIX: 30.-
http://www.hotsquat.ch

Die Leute vom HOTSQUAT CALENDAR 2012 machen je 1 Exemplar ihres Kalenders den Autoren der 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Geschenk.

KULTURA-EXTRA bedankt sich für das Sponsoring!

Weitere Infos siehe auch: http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/weltuntergang.php


Zur Auswertung des Kurzgeschichtenwettbewerbs

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