Die Krise das Selbst der Widerstand oder von der alltäglichen Infragestellung der Macht
Ein Versuch Cluster von Detlef Hartmann und Gerald Geppert vor dem Hintergrund der Finanzkrise zu lesen
Text: Gerald Pirner Foto: Adel
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HÖRT WEG!
kein wort soll mehr von aufbau sein
kein wort mehr von arbeit und altersrente
hört weg – ihr helden – ich rede allein
für asoziale elemente
für arbeiter die nicht mehr arbeiten wollen
für die stromer und wüsten matrosen
für die sträflinge und heimatlosen
für die zigeuner und träumer und liebestollen
für huren in häusern mit schwülen ampeln
für selbstmörder aus zerstörungslust
und für die betrunkenen die unbewusst
ein stück von einem stern zertrampeln
ich rede wie die irren reden
für mich allein und für die andern blinden
für alle die in diesem leben
nicht mehr nach hause finden
Christa Reinig (1926 – 2008)
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Als gäbe es einen guten Kapitalismus den zu verteidigen es jetzt gälte. Vor den Alltag der Ausbeutung Schuldige gezerrt und ins Rampenlicht dass dessen Normalität dahinter verschwinde. Da hängen Kapitalisten dem Kapital eine hässliche Fratze an als hätten sie nichts mit ihm zu tun. In der Schwere schicksalhafter Notwendigkeit Milliardenstützungen inszeniert und als Gipfel des Hohns vom Bundespräsidenten zu Spenden gegen den Hunger in Trikont aufgerufen, den er als IWF-Präsident vorher doch selbst mitverschuldet. In Verstaatlichungen parallel dazu erneut dasselbe Boot vorgegaukelt, in welchem angeblich die zusammensitzen die ausgepresst und die die ihre Auspressung besorgen.
Jede Krise droht mit Vernichtung. Noch mehr ausgebeutet werden oder verrecken. Horrorszenarien als rechtfertigende Untermalung weiterer Angriffe auf niedrige Einkommen und Löhne vermittelt in der Staatspose letztmöglicher Rettung. Spektakel eines aufpolierten Kapitalismus als hehres System das edel nun gegen seine Auswüchse vorgeht. Verwertung und Mehrwertabpressung soll wieder von ehrlichen Bankern und Unternehmern kommandiert werden und Gewerkschafter sähen allzu gern Arbeiter und Arbeiterinnen an deren Seite – gibt es doch scheinbar nur noch einen einzigen Feind, den man jetzt “Heuschrecke“ nennt oder “Zocker“. Als bereite sich da eine neue Form des Korporatismus ideologisch vor, flankiert von Sicherheitspaketen à la Schäuble und der Restauration des Nationalstaats. Hierfür freilich auch das Bild brav und sicher konsolidierender Staatsmacht, vertraute Gesichter in ernster Mine als sichtbares Bollwerk des Vertrauens gegen blindwütige Virtualität. Strukturelle Analogien sind hier nicht zu unterschätzen, denn was hier wieder einzusetzen vorgegeben, sind Halt und Anker des Geld-Werts, Identitätsbürgschaften also oder Wesensgarantien und war das nicht vor `68 die ganz basale Voraussetzung auch des Erhalts und der Tradierung all der anderen konservativen Wertvorstellungen. Nicht zufällig erfuhren diese in der Zeit ihr Begräbnis als mit dem Ende des Bretton-Woods-Währungssystems die Geldströme zu floaten begannen und der Poststrukturalismus mit allen Ursprüngen, Identitäten und Subjektivitäten aufräumte. Ein Drang nach dem Zurück ist da zu spüren, so als gelte es aus dem Dickicht von Zeichen und Bildern auch jene alte längst verstorbene Welt zurückzuholen, die ihre Herrscher in der Gloriole der Autorität festen Schritts in die Zukunft schob. Floatende Geldströme stellvertretend attackiert für die Agonie des Realen. Stilisierter Kampf gegen das Unsichtbare das Fiktive das Unehrliche das Schlechte ja das Böse und alles freilich in der Tonart wiederkehrender Religiosität, wo “Vertrauen“ und “Glaube“ die beiden Vokabeln, die in den letzten Wochen wohl am häufigsten zu hören. Dem Abstrakten endlich ein Gesicht verliehen: Personifizierung von Ausbeutung personifizierbare Machtinhaber gegenüber und daran arbeitet sich das Gute in der Politik ab - ganz beiläufig schielend auf ein Identitätssurplus für ein “Wir“ – im Spotlight der Wahrheit dann das einzige das endgültige und das letzte Heil.
Weg von suggerierter Ohn-Macht sucht der folgende Text zu einem offenen Machtbegriff zu gelangen, der es ermöglichte erfahrene Ausbeutung und Unterdrückung als niemals endgültig, als prozessual und letztlich auch widerständig gelebt zu umreißen. “Selbst“ ein Wort ein Begriff. Je nachdem wie er gefasst öffnet er Welt und Wirklichkeit und Praxis. Im Folgenden soll von einem Selbst die Rede sein, das ganz alltäglich der Macht ausweicht, sie zurückdrängt, sie nutzt, sie spielerisch einsetzt gegen die, die ihm als Bemächtigung begegnen. Seiner Widerständigkeit soll nachgespürt werden und sei diese in den kleinsten und minimalsten Äußerungen zu finden. Von einem Selbst soll da die Rede sein, das in Auseinandersetzungen überhaupt erst entsteht, sich verändernd und immer wieder neu und anders in Widerständigkeit reflektiert. Immer aber bleibt es unfassbar und nie ist es ganz und niemals etwas anderes als Praxis.
Ihren Ursprung in der Reaktion auf Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung gesehen, soll im ersten Teil die Finanzkrise diesseits aller vernebelnden Begriffe wie Gier Spekulation oder Casinokapitalismus beleuchtet werden. Zwischen Selbst und Macht soll sodann ein offener Blickwinkel auf Klassenauseinandersetzungen im ganz Alltäglichen entwickelt werden, der zu Fragen führte die Widerstand in all seinen Spielarten einen möglichst breiten subversiven Raum öffneten. Ausgangspunkt und Leitlinie dieses zweiten Teils ist eine Kritik des Autors an Cluster von Gerald Geppert und Detlev Hartmann, die in ihren Arbeiten die neuerliche Kapitalstrategie als Übergang vom Push zum Pull, vom bloßen Zwang zur Selbsteinspeisung untersuchten. Die Makroebene des ersten Teils im harten Kontrast zur unmittelbaren Erfahrung des zweiten Teils. Zusammenhänge von Macht Widerstand von Subjektivität und Selbst in einer vielleicht etwas anderen Weise reflektiert.
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Erster Teil: Kredit und Kampf um ein besseres Leben
Erstes Vorspiel
Ein Kredit ist Gewalt. Er hungert aus. Er vernichtet. Leben verspricht er wo es zum Überleben nicht reicht und verschafft dabei nur der Macht einen Aufschub. Antwort ist er auf Aufstand und Streik und die sind letztlich auch sein Ursprung. Wie schwere Waffen lässt er Maschinen dort aufstellen wo die Arbeit verweigert. Wo ein Währungssystem Kommando und Staat allzu eng an Produktivitätssteigerung koppelt, werden erstere in kurzer Zeit von Kämpfen zerrieben, die deren Durchsetzung verhindern. Unmittelbar gebunden an die US-amerikanische Notenpresse hatten die westlichen Länder die Dollarschwemme mit der Nixon den Vietnamkrieg zu finanzieren suchte als Preissteigerungen gegen das “eigene“ Proletariat durchzusetzen. Massive Streikbewegungen und Auseinandersetzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen ließen auch die “Dollarproduktion“ hohl drehen, trieben das ganze System Anfang der 70er Jahre an den Rand des Kollaps. Was den Kommandoebenen fehlte war Geld denn das beanspruchte das Proletariat. Mittels Ölkrise schöpfte das Kapital weltweit Löhne und Einkommen ab und legte sich in einer Umstrukturierung des Kreditwesens - basierend auf freiem Devisenhandel und freifloatenden Geldströmen - die Waffen zurecht, mittels derer es Ende der 70er begann die Metropolenfabriken vollkommen umzustrukturieren. Maschinen, kreditfinanziert in bisher nicht gekanntem Ausmaß, hebelten den ArbeiterInnenkampf schlichtweg aus. Verunmöglichten Lohn- und Einkommensforderungen zuvor noch alle Investitionen, hielten durchgesetzte Ansprüche das Geld bei sich, so koppelte das Kommando letzteres von der Produktion ab, blähte es in neuen Finanzprodukten zu einem Volumen, das mit der Wirklichkeit der Produktion scheinbar nichts mehr zu tun haben musste. Philosophischen Strömungen wie dem Konstruktivismus entsprechend, kam es im Bild der Autopoiesis daher, erschien - und mehr denn je zuvor - als ein Mechanismus, der zur Wertvermehrung keine Arbeit mehr brauchte: sich selbst als Subjekt und einzig verbleibende Macht setzend, aus sich selbst erzeugte Omnipotenz.
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Häuserkauf und Subversion
Konsum auf Pump statt höhere Löhne. Kredit als Strategie gegen ArbeiterInnenkampf. Billiges Geld als leicht durchsetzbare Einkommenssteigerung. Verschuldung statt eines zweiten oder dritten oder vierten Jobs. Der Kredit als Teil neoliberaler Ideologie über Scheineigentum und Eigentumsschein - große Teile des Proletariats zur Mittelschicht erklärend. Alle Geldhähne nach dem 11. September öffnend, suchte die US-amerikanische Notenbank einer Rezession entgegenzusteuern - jede Kreditvergabe dabei unterstützend - und so hatten plötzlich die, die nichts hatten beträchtliche Summen zur Verfügung, kauften Häuser kauften Autos oder verlebten einfach alles Geld, das ihnen von einem Moment auf den anderen hinterher geworfen. Im Hausbaurausch die Immobilienpreise nach oben getrieben, steigerte die “neue Mittelschicht“ ihre Bonität je mehr sie konsumierte. Je mehr Häuser gebaut desto kreditwürdiger das Proletariat und das setzte die Preissteigerungen für Häuser in neuerliche Kredite um von denen es, refinanziert erneut durch Kredite, mehr und mehr lebte. Parallel dazu stiegen aber auch die Löhne. Nicht exorbitant zwar, aber doch um ein beträchtliches mehr und schneller als im Euroraum; nahmen die Auseinandersetzungen vor allem im Dienstleistungsbereich zu und wo Streiks, wie etwa der landesweite HafenarbeiterInnenstreik dem Kommando von Staat und Kapital aus dem Ruder zu laufen drohten, wurden sie kurzer Hand gerichtlich verboten. War mit den Krediten an Arbeiter und Arbeiterinnen das Kalkül verbunden, die Löhne niedrig zu halten, bewirkte das billige Geld genau das Gegenteil: ermöglichte es dem Proletariat doch der Arbeit auszuweichen und nicht jeden beliebigen Drecksjob anzunehmen.
Ein Kredit ist ein Glaubensbekenntnis gedeckt durch Polizei und Militär. Solange geglaubt wird gibt es auch keine Überschuldung. Wo aber der Glaube verloren richtet der Gerichtsvollzieher den Rest und hier allerdings beginnt der Glaube von neuem: wenn die Preise im Keller, gibt es auch für den Gerichtsvollzieher nichts mehr zu holen. Tatsächlich ins Trudeln geriet der so genannte Subprime-Sektor erst nachdem 2007 immense Summen aus ihm abgezogen und das auf einmal. Nur wenige Immobilienkreditnehmer waren zunächst pleite. Den Sturz besorgten die Großanleger. In dessen Folge jagten die Häuserpreise in den Keller und der “neuen Mittelschicht“ wurden die Kredite zur Refinanzierung ihrer Schulden verwehrt. Aus der Mittelschicht wurde erneut das was sie immer geblieben: besitz- und eigentumsloses Proletariat, dessen Schulden jetzt niemand mehr über den Weg traute. Subversiven Viren gleich zerfraßen sie die verbrieften Anlagen, rächten sich mit Aushöhlung des gesamten Finanzkapitals für den Betrug. Späte Rache aber auch von Al-Qaida, deren Twin-Tower-Anschläge geradezu Startschuss für die Kredite zum Nulltarif. Späte Rache aber auch von Mao Tse-tung: brachte Peking doch - nachdem von der US-Regierung zunächst eine Sicherheitserklärung für chinesische Anlagen verweigert - den ganzen Crash im Sommer 2008 durch den plötzlichen Abzug immenser Summen aus dem Hypothekenmarkt erst so richtig in Schwung.
Anderen Kapitalfraktionen und Regierungen kam der Anstich dieser so genannten Blase alles andere als ungelegen. Mit dem Aufstieg von Investmentbanken und Hedgefonds und der rasanten Ausdehnung des fiktiven Kapitals als ihrer strategischen Machtbasis hatte sich auch das Kapitalkommando insgesamt beträchtlich umstrukturiert. Lagen vormals grob gesprochen Unternehmenslenkung und –leitung in Händen des Management oder Vorstands und hatten die eigentlichen Eigner – entlohnt freilich für ihre Geldanlagen in Gestalt von Dividenden oder Renditen – letztlich keinerlei unmittelbaren Einfluss auf Kurs und Entscheidungen des Unternehmens, so kehrte sich mit der Übernahme großer Aktienpakete durch Fondsgesellschaften das Ganze um. Unternehmen welcher Art auch immer wurden übernommen, kurzfristig und drastisch umstrukturiert, teils weiterverkauft, teils auch weitergeführt, in jedem Falle aber floss nichts in mittel- und langfristige Akkumulation zurück. Aller Surplus – oder zumindest der größte Teil davon – ging erneut der höheren Renditen wegen in den Finanzsektor über und blockierte dadurch Akkumulation und Ausdehnung des eigentlich produktiven Sektors, der immer noch und ein wenig romantisch als reale Wirtschaft bezeichnet. Aber selbst Banken und Börsen waren längst nicht mehr “Herr im eigenen Haus“. Dies erfuhr beispielsweise Josef Ackermann vor wenigen Jahren als ihm die Investoren der Deutschen Bank signalisierten, sein Interesse an der Postbank interessiere sie nicht. Ackermann musste die Verhandlungen mit der Postbank abbrechen. Damals. Kaum aber waren vor wenigen Wochen Investmentbanken und Hedgefonds unter Druck geraten, übernahm die Deutsche Bank unter seiner Federführung einen beträchtlichen Teil der Postbank, darin auch ein Zeichen setzend: weg vom fiktiven Kapital hin zu realen Spareinlagen, weg von der Spekulation zurück in die Produktion.
Mit der Finanzkrise sucht das Kapitalkommando den Weg zurück in die eigentliche Ausbeutung. War der Kredit in den `80er Jahren ein Hebel den Kämpfen von Arbeitern und Arbeiterinnen auszuweichen, treibt die geplatzte Kreditblase das Kapital zurück in die reale Akkumulation, zurück in die unmittelbare Auseinandersetzung mit Arbeitern und Arbeiterinnen in Fabriken, Klitschen im Dienstleistungsbereich. Im orthodox-marxistischen Sinne erwüchse Arbeitern und Arbeiterinnen objektiv so größere Macht, restituierte sich die Produktion als deren strategische Basis. Als wolle es sich für zukünftige Auseinandersetzungen die beste Ausgangsposition schaffen, treibt das Kapital das Proletariat in den USA über Zwangsräumungen – allein die Deutsche Bank ordnete 2007 und allein in Cleveland/Ohio 7000 Zwangsräumungen an – über den Kollaps ganzer Sektoren wie der Bauwirtschaft und dem Transportsektor – forciert oben drein durch Benzinpreiserhöhungen um ein Vielfaches – und durch explodierende Lebensmittelpreise in eine Verelendung, die die Akzeptanz von Löhnen und Arbeitsbedingungen auf einer ganz anderen Ebene durchsetzen soll.
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Dass den Herrschenden dabei vor Massenaufständen graut war nicht zuletzt der Panik-Rede von George Bush im September anzuhören.
Stopp. Schnitt. Genauso abrupt wie der Schock der Krise.
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Zweiter Teil: Selbst-Widersprüche
Zweites Vorspiel
Jeder Begriff, der als eindeutige Bestimmung verstanden, stellt der Wirklichkeit eine Falle, und wo Praxis aus ihm abgeleitet, vollstreckt sie lediglich seine Urteile an ihr. Wo er feststellt treibt er Bewegung aus oder diffamiert sie. Wo er von Objektivität spricht, spricht das vermeintlich Gefasste von Objektivierung, von Verstümmelung von Welt und Wirklichkeit. Unter solcher Art “Gebrauch“ verlieren die Begriffe alle Dynamik, werden stumpf und verhindern, dass sich in ihnen Prozessualität wie die von Klassen-Auseinandersetzungen ausdrückt, geschweige denn widerspiegelt. In einer Phase der Kapitalentwicklung, die klare Konturen zwischen Produktion und Reproduktion in einem bisher nicht erlebtem Maße ineinander verschwimmen lässt, die strategische Unterscheidungen von “produktiv/nicht produktiv“, von “Konsumption“ und “Produktion“ sinnloser macht denn je, gilt es Begriffe aufzuspüren mittels derer die Räume aktueller Klassen-Auseinandersetzungen ausgelotet werden können, ohne diese vorab und mit Hilfe klassischer Kriterienkataloge mit Subjekten zu bevölkern. Wirklichkeit ist keine Tatsache, keine je vollständig zu begreifende Objektivität. Wirklichkeit ist das Ergebnis von Machtverhältnissen und wird in einem jeden Moment auf je spezifische Weise durchgesetzt.
In zwei unlängst bei Assoziation A Berlin unter dem Titel Cluster erschienenen Aufsätzen analysieren Detlef Hartmann und Gerald Geppert die technischen Bedingungen aktueller Klassen-Auseinandersetzungen, aus deren historischer Entwicklung seit den Kämpfen in den 60er und 70er Jahren sie die momentane Kapitalstrategie als Gegenoffensive herausarbeiten, um sie beispielhaft an der Region Wolfsburg zu beleuchten. Cluster, von den Autoren weniger als vorgedachtes Programm denn als vielfach gebrochener strategischer Fluchtpunkt neuerer Kapitaloffensive begriffen, zielt von einem Verwertungszentrum ausgehend auf Vernetzung und Verdichtung aller im Umland befindlicher Ressourcen sowie deren Mobilisierung und Ausrichtung hin zu Weltmarktproduktion. Weit über bisherige Wirtschaftsförderung als Infrastrukturmaßnahmen Logistikmanagement und strategischer Ansiedlungspolitik hinausgehend, ist es vor allem das so genannte Humankapital das ins Visier weltweit operierender Beratungsfirmen wie McKinsey oder Bertelsmann genommen wird, unter deren Ägide und mit den Erfahrungen aus Clusterregionen wie Silicon Valley der “ganze Mensch“ als je eigenverantwortliches Subjekt innerhalb der Verwertung herausgebildet werden soll.
Waren Maschinen und Fließband als Teil eines Kommandos zu sehen, das Arbeiter und Arbeiterinnen Tätigkeiten abnötigt, so entfalten diese doch bei deren Verrichtung ein Wissen das hinter dem Produkt verschwunden bleibt. Weder Stopper noch Repression werden ihnen dieses gänzlich entreißen. Zuallererst waren die Kämpfe an den Fließbändern der Kapitalkathedralen in den 60er und 70er Jahren auch Teil einer Kulturrevolution, die Zeit Raum und Leben in aller Lust anzueignen suchte und dabei nichts mehr hasste als die Arbeit und alles was sie durchzusetzen sucht. Wird Kapitalentwicklung von Kämpfen in und gegen die Ausbeutung vorangetrieben, Forderungen Kampf- und Lebensformen dabei als Arbeitsbedingungen gegen Arbeiter und Arbeiterinnen gewendet – in der BRD etwa die massive Ausdehnung von Sklavenhändlerfirmen und befristeten Arbeitsverträgen in Verbindung mit Lohnsenkungen zu Beginn der 80er Jahre als Reaktion auf den Abschied von "lebenslänglich Fabrik“ in der Jobberei –, suchte das Kapital als Antwort auf die Kämpfe um Freiheit und Selbstbestimmung sein Kommando in vermehrter Selbstverantwortung in der Arbeit zu delegieren um damit, beispielsweise bei der Gruppenarbeit grandios zu scheitern. Recht anschaulich arbeitet Hartmann den Übergang vom tayloristischen Kommando hin zur “Demokratisierung der Arbeit“ heraus um sich dann bei den weiteren Schritten der Kapitaloffensive vom “Push zum Pull“, von der repressiven Aneignung zur “freiwilligen Selbsteinspeisung“ in Arbeit und so genannter Freizeit erneut vor allem mit der Repression als neuem/altem Gewaltkern des Kommandos zu beschäftigen. Damit aber verschwimmt die Unterscheidung zwischen “Push und Pull“, wird das “Selbst“ zum Ergebnis einer Zwangsmaßnahme.
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Konstruktionen des Selbst aus der Macht
Maschine und Fließband scheinen eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, eine Trennung von Produktion und Reproduktion, eine raum/zeitliche Trennung von Mensch und Maschine zu vergegenständlichen. Obschon es eine solche als Absolutum niemals gegeben hat und es sie auch nur für einen sehr verkürzten Begriff von Materialismus hatte geben können, erfuhren Arbeits- und Lebensbedingungen, Konsumption und Produktion in vielen Bereichen in den letzten Jahren eine neue Qualität von Verschmelzung. Das Neue der Kapitalstrategie ist nicht in neuerlich auftauchenden psychosomatischen Störungen zu sehen. Dass die Arbeit sich in Körper und Leben einschreibt, dass sie Vernichtung ist weit über Stempeluhr und Fabriksirene hinaus, ist keine neuerliche Erscheinung. Nur die Krankheiten haben gewechselt und die Verstümmelungen ihre Gesichter.
Der Übergang vom Push zum Pull als dem Einspeisen von Wünschen Lüsten und Begehren in die Verwertung markiert, wie Hartmann dies sehr gut beschreibt, einen absoluten Schnitt in der kapitalistischen Produktionsentwicklung. Die Subsumption unter die Verwertung als realer Ausrichtung hin zum Verwertungsprozess scheint so sehr wie noch nie “außerhalb“ der eigentlichen Produktion stattzufinden. Vorbereitet in den 90er Jahren in selbstzerfleischenden Mitmachshows der Glotze, wird das Sich-Bekennen zum Selbst zwischen MySpace, Webblog und Chatroom zum allgegenwärtigen Exhibitionismus auf der Suche nach Authentizität, Wesenheit und Eigenem. Neben der aller Orten eingeforderten Selbstdarstellung und Selbstbehauptung sind es vor allem punktuelles Aufmerksamkeitstraining, Geschwindigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Skrupellosigkeit, Entschlossenheit, Offenheit und Verantwortung die in so genannter Freizeit und vor allem mittels neuer Technologie “wie von selbst“ trainiert werden. Freilich organisiert diese “Freiwilligkeit“ - zumal immer Lustgewinn und Wunscherfüllung unterstellt – Denkgewohnheiten und Wahrnehmung inklusive so genannter Soft Skills vollkommen neu. Eine materialistische Analyse, die sich nicht zuallererst daran machte diese neuerlichen Bedingungen ganz praktisch auf ihre Brüche hin abzuklopfen, ihre technischen Bedingungen genauer zu untersuchen und zu untersuchen wo auch hier Haarrisse des Widerstands zu finden, ginge selbst einem Fetisch auf den Leim, der uns vorab glauben machen würde in all dieser Hermetik, die den Computer zum Teil des Körperinnenraums transformierte, wäre nur noch Verwertungsfunktionalität zu finden.
Die Gefahr der Fetischisierung beginnt allerdings bereits beim Begriff des Selbst auf den sich Hartmann immer wieder bezieht. Einerseits wird dem Selbst alle Wesenhaftigkeit, alles Ontologische abgesprochen, andererseits taucht es immer wieder als Garant einzufordernder Autonomie auf und das auch in Zusammenhang mit Selbst-Behauptung. Das Sich-Entziehende, das Verschwindende, das Nicht-Wesenhafte verfügt über eine so absolute Autonomie, die der Mensch noch nicht einmal zu denken vermag. Wo aber ein Selbst behauptet wird muss es über Konturen verfügen und erst recht wenn es als Basis für Widerständigkeit oder Autonomie gesehen wird. Vielleicht sollte aber gerade diese Widerspenstigkeit des Selbst zum Ausgangspunkt seiner Widerständigkeit gemacht werden. Alles andere läuft auf ein fassbares Subjekt hinaus, das jetzt eben als Selbst bezeichnet und dabei handelte es sich – umso schlimmer – weniger um das Ergebnis eines Prozesses denn um eine Art anthropologischer Größe.
Was im Profiling beim Arbeitsamt oder im Betrieb erstellt wird ist ja keineswegs das Abbild eines Selbst, es ist weder der Verrat der tiefsten Innerlichkeit noch die bekenntnishafte Offenbarung von etwas Wesenhaftem. Wo auch immer derartige Befragungen durchgeführt, wird der/die Befragte taktisch vorgehen, wird mit Masken operieren mit deren Hilfe er/sie glaubt das Gewünschte am ehesten zu erreichen. Mit dem Sachbearbeiter und der Sachbearbeiterin wird er/sie - und über alle ausgeklügelten Fragebogenfixierungen hinaus - genauso zu spielen versuchen wie beim Vorstellungsgespräch nach Vorlage digital bearbeiteter Porträtaufnahmen. Retuschiert das Bild wie die Rede, der Wortschatz wie der Habitus. Einübungen in Körper-, Sprach- und Bewegungstechniken. Was all dies aber aus Mann Frau und Kind macht, kann nicht in einer Eins-zu-eins-Umsetzung der Kapitalstrategie in Wirklichkeit verstanden werden.
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Sehr zu Recht verweist Hartmann auf die Prozessualität der Klassen-Auseinandersetzungen, verweist darauf, dass in einem jeden Moment immer wieder alles neu durchgesetzt werden muss. Einerseits darf dabei freilich nicht der Eindruck entstehen - und in Hartmanns Text geschieht dies nicht selten - dass Selbsteinspeisung (gleich lustvoller Selbstverwirklichung) das zentrale Moment heutiger Inwertsetzung. Genauso wie zu Marx’s Zeiten ist Arbeiter und Arbeiterin und in welchem Bereich auch immer mit vergegenständlichter Arbeit als Kommando konfrontiert und innerhalb kürzester Zeit hört hier die Freiwilligkeit zwischen Verantwortung und Anforderung auf, zerbrechen Lust und Laune mitsamt dem Mythos eines in Arbeit verwirklichten Selbst - sehen wir einmal von irgendwelchen Yuppies ab, die uns hier nicht zu interessieren haben. Wenn Hartmann also den starren Begriff der Verwertung durch den dynamischen der Inwertsetzung ersetzt, darin eben die ununterbrochene Auseinandersetzung zwischen Arbeiter und Arbeiterin und Kommando ausdrückend, sollten die alltäglichen Auseinandersetzungen genauso prozessual verstanden werden, ohne dass vorab endgültige Formulierungen wie Selbsteinspeisung, Offenbarung, Bekenntnis und Freiwilligkeit Klassen-Auseinandersetzungen erneut richtungweisend festschrieben. Indirekt würden sonst vorab bereits Kampfterrains ausgewiesen, andere per definitionem gestrichen.
Die Erstarrung des Selbst im Profil hat nichts mit Freiwilligkeit mehr zu tun. Selbst ist nur als Selbstreflektion verständlich, als Momentaufnahme von Empfinden, Wahrnehmen und Inschriften dessen was gelebt. Als solches ist Selbst eine immer künstliche Synthese von Zuständen, unentwegt in Bewegung, in aller Begrifflichkeit die es zu fassen sucht nur provisorisch aufgehoben. Die von Hartmann beschriebenen psychischen Probleme sind nicht zuletzt eine Reaktion auf solche Festlegungen. Da ist kein Selbst verloren gegangen. Da wurde auch kein Selbst verraten. Da wird auch kein Selbst entfremdet. Eher kommen all diese “freiwilligen“ Äußerungen vergegenständlicht zurück, eine feste Identität erneut einfordernd, die zwar durchaus variabel, flexibel und mobil ist, zuallererst aber nur Kommando. Das Selbst als Selbstbehauptung ist ja nicht zuletzt in Gestalt des Ich der Lieblingstopos des Therapeuten, dem es zuallererst darum zu tun solches Ich und Selbst wieder aufzubauen, auf dass es erneut seine Autonomie, seine Authentizität und seine Selbstbehauptung finde.
Das Selbst als Anderes das bei Hartmann als Widerständigkeit immer mitschwingt, scheint sich in einem Außerhalb des Verwertungsprozesses zu befinden und scheint nur von dort aus seine Widerständigkeit entfalten zu können. Verweigerung in einem wilden Niemandsland des Kapitalverhältnisses der nur mit Repression noch zu begegnen, muss unter dem Begriff der Selbstbehauptung als etwas erscheinen, das erhalten wird und erhalten werden kann, was aber von hier aus gesehen als Offensive nur noch als Maschinenstürmerei gedacht werden kann. Wenn aber, und bei Hartmann klingt dies bereits in seinem Konzept von Selbst durch, der Antagonismus in einem spezifischen Verhalten bestimmter Subjekte an bestimmten Orten allzu starke Konturen hat, bedeutete Inwertsetzung die absolute und endgültige Unterwerfung unter die Kapitalverhältnisse innerhalb derer kein Widerstand mehr möglich. “Moralische Ökonomie“ erschiene so als eine Art guter Wir-Instinkt, der sich aber bestenfalls auf den Mythos des Guten im Menschen beziehen könnte, reserviert der aber nur für die Unterschichten, deren Sinn und Sinne dann irgendwie unverdorben und unbestochen erschienen. Hartmann spricht solche Glaubensbekenntnisse freilich nicht aus. Aber irgendwie schwingen sie in seiner Begrifflichkeit mit. Problematisch erscheint auch die Verwendung derselben Begriffe für die beiden Seiten des Antagonismus´s, wo von Autonomie und Selbstbehauptung als Widerstand gesprochen und zugleich als zentrale Momente des Clusterangriffs. Um ein sich einspeisendes Selbst von einem widerständigen Selbst zu unterscheiden wäre Mensch dann schnell versucht von “richtig“ und “falsch“ zu sprechen; zwar nicht von einem richtigen und einem falschen Bewusstsein, jetzt aber von einem richtigen und falschen Selbst.
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Dass die ganze Freiwilligkeit sich längst als Mythos entpuppte zeigt sich im Gewicht, das Hartmann der Analyse von Repression und Krankheit zukommen lässt. Der Unterschied zwischen dem Gewaltverhältnis des Fließband-Maschinenregimes zur heutigen Kapitalstrategie wäre vor allem darin zu sehen, in welchem Maße es dem Verwertungsmanagement gelingt Widerstand und Widerständigkeit in seine Entwicklung einzubinden. Das aber muss sich erst in einer breit angelegten Untersuchung herausstellen. Mit Repression ist keine freiwillige Selbsteinspeisung zu erzwingen. Bleibt aber so nicht zuletzt allein der nackte Zwang ackern gehen zu müssen, weil keine Kohle da ist übrig? Dann aber wäre die großangelegte Kapitalstrategie zusammengebrochen und unklar bliebe worin sich Push und Pull noch unterschieden.
Alles Wissen und auch das vermeintliche vom Selbst, ist von Machtstrukturen durchdrungen. Alles Sprechen vom Selbst, alles Sicheingeben will etwas und sucht sich durchzusetzen. Kein Selbst also ohne Taktiken. Keine Selbstverwirklichung ohne Scheitern. Keine Selbsteinspeisung ohne die Erfahrung von Ohnmacht und von Unlust. Zentrales Moment der Inwertsetzung wäre damit die Unterwerfung des Selbst unter das, was es von sich aussagt, Durchsetzung seines Bildes, seines Profils im Nachhinein. Unterwerfung unter die eigenen Äußerungen als Subjektbildung im Sinne des Kapitals. Was an Wissen wir in der Verwertung von uns kund tun, wird in der Verwertung und nur in ihr von uns produziert und wendet sich zugleich in der Verwertung als Kommando gegen uns, überlässt uns Subjektivität in einem gewissen Handlungsrahmen. Letztlich haben wir dem zu gehorchen was von uns ist. Aber liegt hierin tatsächlich ein entscheidender Unterschied zum/zur Fließbandarbeiter/-arbeiterin oder zum/zur Arbeiter/Arbeiterin an der Maschine?
Je nachdem wie ein Begriff gefasst sieht die Praxis aus, die sich auf ihn stützt. Ist Widerständigkeit immer von Widersprüchlichkeit durchzogen hat der Begriff dies nicht auszubügeln. Damit aber ist der Begriff nicht Ursprung der Praxis, sonder die Praxis der Ursprung des Begriffs. Wenn nach Hartmann in der Prozessualität der Inwertsetzung und aller Auseinandersetzungen in ihr der Klassenbegriff obsolet wird, bedeutet dies vor allem, dass alle vorab gefasste Perspektivität, alle Richtung, alle Zukunft in Auseinandersetzungen hier und jetzt verabschiedet werden müssen und das ist gut so. Hierin liegt die wunderbare Deutlichkeit von Hartmanns Text: eine Praxis des Nein, die nichts übrig zu lassen gedenkt. Verwertung ist Vernichtung. Alle Einspeisung, alle Freiwilligkeit zerbröseln in der Arbeit wie alle anderen Mythen, die darüber hinweg zu täuschen suchen, dass hier Arbeitszwang herrscht. Vielleicht fliegt Walter Benjamin´s “Engel der Geschichte“ mit dem Rücken voran umso sicherer in die Zukunft, weil sein Blick wenn auch erschrocken auf den Trümmern dessen liegt was vergangen und was alle Zukunft verhinderte.
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Fragen ins Offene
Alle diese Überlegungen erhielten nur politische Kraft wo es uns gelänge ganz praktisch zu begreifen wie Ausbeutung hier und heute und in Metropolen wie Berlin funktioniert oder genauer: wo ihr dies eben gerade nicht gelingt. Grundsätzlich muss eine jede Betrachtung der Klassen-Auseinandersetzung in einem wesentlich breiteren Winkel vorgenommen werden. Wie etwa verändert sich so der Blick auf Auseinandersetzungen an Schulen und Hochschulen um Lehrplan und Curriculum, auf die vermehrt Sponsoren Einfluss zu nehmen suchen? Welche Auswirkungen haben Profilings und Vorschulprogramme, die bereits in den Kitas vorgenommen werden und zuallererst zusätzliche Arbeit bedeuten?
Mit der Ausdehnung des Kriteriums der Integrationsferne wird derzeit die Anzahl der Schwervermittelbaren durch Jobcentern in Berlin eher aufgebläht. Über 10.000 Stellen in so genannten ÖBS-Stellen werden bei Trägern angesiedelt nachdem der sogenannte 1. Arbeitsmarkt die Integrationsfernen nicht haben wollte. Bei einer Befristung von 2 Jahren mit der Möglichkeit einer Verlängerung und einem Nettogehalt von etwa 1.000 € sind die Jobs relativ begehrt. Versprechen sie doch 2 Jahre Ruhe vor dem Arbeitsamt und sind obendrein nicht mit lästigen Trainingsmaßnahmen gespickt. Wie läuft die Offensive auf Hartz IV/Jobcenter-Ebene im Moment und ist sie tatsächlich mehr denn der forcierte finanzielle Druck?
Einen Boom nicht gekannten Ausmaßes erfährt im Moment der Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Mittels Aufweichung der Kriterien unter denen bislang Menschen in die Werkstätten gesteckt wurden, wird der Begriff der Behinderung ausgedehnt und tendenziell zur Kategorie der untersten Ausbeutungsstufe, auf der es sich unter Niedrigstlöhnen für Simens BMW VW u. a. wieder rentiert, in Handarbeit für Massenproduktion arbeiten zu lassen.
Wie sehen die Fabriken der neuen Kapitalstrategie aus? Was hat sich an Arbeitsbedingungen und Arbeitsablauf konkret verändert? Von welchen Zentren aus werden die Clustervernetzungen forciert? Was heißt das für die Beschäftigungspolitik der Konzerne, für Zulieferung und für die konkrete Kooperation, für Mobilität, für Fluktuation und letztlich: bringt die neue Kapitalstrategie neue Widerstandsformen hervor? Kippt die Freiwilligkeit ins Eigenwillige?
Ist der ganze Bereich der so genannten Freizeit, der Musikkultur, der Drogen, der diversen Exzesse tatsächlich nur Ausdruck von letztlich bravem Konsumverhalten (illegale Parties als Rückeroberung der Stadt, Aufhebung der Abschottung diverser Szenen)? Sind all diese Bewegungen - die ja eher massenhaft stattfinden - die andere Seite der Internetselbsteinspeisung, die Fortführung des Egotrips mit anderen Mitteln, oder wird das Selbst dabei in Masse mehr und mehr selbstlos? Drückt nicht das widerliche massenhafte Deutschlandfahnen-Schwingen mehr eine Sehnsucht nach gespürtem Massenkörper aus denn ein Aufleben des Nationalismus? Zeigt sich nicht gerade wenn auch auf gefährliche und ekelerregende Weise in diesem Wir-Gesuche (und das ist tatsächlich gepuscht) eine Krise des Selbst und des virtualisierten Körpers?
Indem im Cluster alle menschlichen Regungen aufzugreifen gesucht, wird er als Verdinglichung und Vergegenständlichung von Leben zu einer Offensive, die alle Bedingungen von Produktion und Reproduktion im noch nie gekannten Ausmaß vereinheitlicht. Was verändert sich ganz konkret über das Internet dabei an unserer Wahrnehmung, unserer Aufmerksamkeit, der Art Welt zu sehen oder zu denken? Welche Rolle spielt dabei die abverlangte Geschwindigkeit? Was macht sie mit unseren Körpern? Wie setzt sich all dies sinnlich erfahrbar durch und wie ist von daher das Andere überhaupt noch zu denken? Wie funktionieren wir als Bilder von uns selbst? Wie funktioniert der Aufstand als Bild, die Revolution? Wie funktioniert das Denken über Praxis, über Gesellschaft und Verhältnisse? Sind diese Bilder womöglich genauso reproduzierbar wie das Andere, das Exotische, das Utopische, das längst hinter Werbeplakaten verschwunden? Aber ist das nicht gut so? Gingen uns die spießigen Anders-Leben-Konzepte nicht schon lange auf die Nerven?
Und was sind wir? Und nochmals eine Frage die schon einmal auftauchte: Was bringt uns dazu uns in alledem nach wie vor als Revolutionäre und Revolutionärinnen begreifen zu wollen? Was hindert uns endlich daran an unseren eigenen Verkrustungen kleben zu bleiben, auf unsere eigenen Abziehbilder hereinzufallen? Was zwingt uns dazu endlich aufzuhören, das Ganze denken zu wollen und es trotzdem in der Praxis immer und auf einmal anzupacken? Richtungslos dann vielleicht und vielleicht ganz verkrüppelt, in jedem Falle aber Experimente am lebenden Leib. Am lebendigen Leib.
Ausgehend von der Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung, Ausgehend von den ganz kleinen Widerständen, ließe sich zuallererst die Verblödung vermeiden in die uns die Herrschenden allzu gerne mit ihren Krisen- und Horrorszenarien steckten, ließe sich eine Lähmung abschütteln im Aufspüren und Erspüren der Anderen, die vielleicht auch beginnen an den Haarrissen der Verhältnisse herumzubohren um sie weiter und weiter aufzureißen.
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Gerald Pirner - red / 16. Oktober 2008 ID 4029
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