EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
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Gebürtig (A 2002)
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Der Pensionär Karl Ressel (Ernst Stankovski) sitzt mit seiner Tochter Susanne gemütlich in einem Cafe auf der Berghöhe Rax, als ihn mit einem Schlag die Vergangenheit einholt. Der ehemalige KZ-Häftling Ressel erkennt am Nebentisch einen grausamen KZ-Aufseher wieder. Es ist Karl Pointner, der als „Schädelknacker von Ebensee“ traurige Berühmtheit erlangte. Ressels Tochter Susanne (Ruth Rieser) ruft sofort die Polizei an, die den KZ-Aufseher noch während seines überstürzten Abstiegs vom Berg verhaftet. Den Rentner Karl Ressel jedoch hat die unerwartete Begegnung derart mitgenommen, dass er zusammenbricht und ins Hospital eingeliefert werden muss. Er stirbt in der Klinik - und mit ihm der vorletzte überlebende Zeuge für die Vorfälle in Ebensee.
Der letzte Zeuge heißt Hermann Gebirtig und lebt in New York. Er weigert sich, nach Wien zu kommen, um gegen Pointner auszusagen. Er glaubt nicht mehr an Gerechtigkeit, sagt er. Wien nennt er eine "Schlangengrube", die sich von der "einstigen Welthauptstadt des Antisemitismus zur Hauptstadt des Vergessens" entwickelt habe. Erst als ihn die attraktive Susanne persönlich in New York aufsucht und zur Reise nach Wien drängt, lässt er sich widerwillig überreden.
In Wien gelingt es Gebirtig ein wenig, sich seinen Ressentiments gegen die Stadt zu stellen. Er lernt den Kabarettisten Daniel Demant (August Zirner) kennen, der als nachgeborener jüdischer Österreicher scheinbar ganz gerne in Wien lebt, in seinen Kabarettprogrammen aber sehr kritisch mit der Stadt und ihren Menschen umgeht. Sein Kabaretttheater ist auch ein Treffpunkt und Austausch zwischen „Opferkindern“ und „Täterkindern“. Die Handlung spielt im Wien des Jahres 1987, dem Höhepunkt der Waldheim-Affäre.*)
*) Dem damaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim wurde seine Armeezeit als Nazi-Offizier angekreidet. Die Affäre war Auslöser einer eingehenden Auseinandersetzung mit Österreichs nationalsozialistischer Vergangenheit.
Eines Tages bewirbt sich Demant für eine Komparsenrolle in einem Film über Auschwitz. Als die Filmcrew am Originalschauplatz die Gräuel von einst nachstellt und einige von ihnen in Häftlingskleidung herumlaufen, bekommen alle irgendwann den sogenannten „Auschwitzkoller“.
Die Nachkommen jüdischer Familien sind aber nicht die einzigen, denen Auschwitz zu schaffen macht. Der Hamburger Journalist Konrad Sachs wohnt den Dreharbeiten bei (wunderbar gespielt von Daniel Olbrychski). Er wird durch diese Erfahrung in eine tiefe Krise gestürzt, die ihn sogar dazu bringt, sich seiner geliebten Frau nicht mehr würdig zu finden. Konrad Sachs kommt mit seiner Abstammung nicht zurecht. Als Kind wurde er „der Prinz von Polen“ genannt. Sein Vater war ein SS-Arzt, der in Auschwitz Experimente mit den Häftlingen machte. Er hatte sich zwar nicht selber schuldig gemacht, aber ihn martert der Gedanke, dass er genau wie sein Vater geworden wäre, hätte die Gnade seiner späten Geburt das nicht ausgeschlossen. Eines Tages schreibt er das alles auf und outet sich mit der Veröffentlichung als Täterkind.
In Gebürtig thematisieren die Drehbuchautoren und Regisseure Robert Schindel und Lukas Stepanik die unterschiedlichen Gebürtigkeiten aus verschiedenen Perspektiven. Während der Kabarettist Daniel Demant sich freiwillig damit auseinandersetzt, kommen die meisten anderen Charaktere eher zufällig in Situationen, in denen sie sich gezwungenermaßen der Vergangenheit stellen müssen. Robert Schindels Drehbuch trägt autobiografische Züge. [KULTURA-EXTRA war daher erfreut, dass sich Herr Schindel am 21. März 2004 zu einem Interview bereit erklärte.]
Zur Person: Robert Schindel
Robert Schindel wurde am 4.4.44. in Österreich geboren. Er ist das Kind jüdischer Eltern, die vor Hitler zunächst nach Frankreich fliehen, dann aber heimlich nach Österreich zurückkehren, um dort eine Widerstandsgruppe zu gründen. Die Eltern sind weltlich ausgerichtet und überzeugte Kommunisten. Als sie verhaftet und deportiert werden, kann der kleine Sohn unter wundersamen Umständen gerettet werden. Der Vater kommt um, die Mutter gehört zu den wenigen Überlebenden der Familie.
Schon früh entdeckt der junge Schindel sein Talent zum Schreiben und veröffentlicht Lyrikbände. Er ist politisch aktiv und Mitglied der KPÖ, der Kommunistischen Partei Österreichs. Er ist von den Lehren Maos begeistert, setzt sich aber auch intensiv mit Philosophie und Literatur auseinander. Seine parteipolitisch aktive Zeit ist aber schon lange vorbei, heute bezeichnet er sich als „unabhängigen Linken“. Mit zunehmendem Alter drängt sich seine Herkunft ins Bewusstsein und er beginnt, die Vergangenheit seiner jüdischen Familie aufzuarbeiten. Dies tut er von einer intellektuellen Warte aus, in der das Judentum als Religion für ihn keine Rolle spielt. 1944 geboren, gilt er als Überlebender der Massenvernichtung, kann sich an diese Zeit aber natürlich nicht erinnern. Daher beurteilt er die Auswirkungen aus der Perspektive der nachgeborenen Generation. Ein Thema, das er ausführlich in seinem Roman „Gebürtig“ beschreibt, der bei seinem Erscheinen 1992 einen Nerv traf und große Aufmerksamkeit erregte. Zur Zeit läuft der Film „Supertex“ im Kino, an dessen Drehbuch er mitgewirkt hat. Das Drehbuch zu Gebürtig schrieb er in Zusammenarbeit mit seinem Co-Regisseur Lukas Stepanik und Georg Stefan Troller.
Helga Fitzner - 21. April 2004
Weitere Infos siehe auch:
www.realfictionfilme.de
www.cultfilm.com/gebirtig/
Zur Person: Robert Schindel | Film-Spezial: Interview mit Robert Schindel
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