Mit viel-
stimmigem
Pathos zum
Märtyrer
erhoben
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Bewertung:
Der WDR Rundfunkchor brachte anlässlich des diesjährigen Cologne Prides das Musical-Oratorium Considering Matthew Shepard zur deutschen Erstaufführung. Das Benefizkonzert zugunsten des queeren Kölner Jugendzentrums Anyway erzählt vom tragischen Schicksal Matthew Shepards.
Die grausame Ermordung Shepards im Jahr 1998 ist eines der bekanntesten schwulenfeindlichen Verbrechen in der amerikanischen Geschichte. Der 21-jährige, offen schwule Student stieg am 6. Oktober 1998 in Laramie/ Wyoming in das Auto von zwei Gleichaltrigen, die er in einer Bar getroffen hatte. Hier wurde er beraubt und von den zwei Angreifern, Aaron McKinney und Russell Henderson, verprügelt. Sie schlugen ihn und fesselten ihn an einen Zaun. Shepard wurde fünfzehn Stunden später bewusstlos aufgefunden und erlag wenige Tage später in einem Krankenhaus den zugefügten Verletzungen.
Das außergewöhnlich grausame Verbrechen wurde über die USA hinaus bekannt. Es löste landesweite Gegenreaktion gegen stillschweigende Duldung von Homophobie aus. Infolge von Matthews Tod hat sich für die schwule Gemeinschaft viel getan. Politiker und Prominente sagten Unterstützung und finanzielle Mittel zur Bekämpfung von Hassverbrechen gegen Homosexuelle zu. Die Familie Shepard setzt sich inzwischen für die Rechte von Homosexuellen ein. Matthews Eltern Judy und Dennis Shepard leiten die Matthew Shepard Foundation, die Bildungsprogramme und eine Online-Community für Jugendliche finanziert, in der sie über sexuelle Orientierung und Geschlechterfragen diskutieren. Es gibt zahlreiche Dokumentarfilme, Theaterstücke, Bücher und Veranstaltungen, die auf der Geschichte basieren.
Der US-amerikanische Arrangeur Craig Hella Johnson komponierte das Oratorium Considering Matthew Shepard 2016 anlässlich des 20. Jahrestages der Ermordung als Mahnmal gegen Hass und Gewalt. Die Mischung aus Klassik, Jazz, Blues, Pop, Country, Americana und Gospel fesselt auch in Köln. Mit bravourösem Können meistert der WDR Rundfunkchor die vielschichtige und anspielungsreiche Grundstruktur der stilistisch gewagten Komposition, die auch Motive von J. S. Bach oder Benjamin Britten aufgreift. Johnson erhielt von der Matthew Shepard Foundation 2021 für das Werk einen Award.
Das Ensemble singt nicht nur auf der Bühne, es spricht, johlt, trommelt und schreit. Es gibt atemberaubende Soloeinlagen. Matthew Shepard (Oliver Morschel) beginnt die Erzählung mit Jodlern eines Cowboysongs. Er versetzt so die Geschichte in den Westen Amerikas, wo die Erzählung sich abspielt. Chorpassagen folgen in weitläufigen Linien, farbigen Melodien und Rhythmen. Oliver Morschel und der Chor charakterisieren das Wesen Shepards mit "Ich bin lustig, manchmal vergesslich und unordentlich und faul".
Morschel porträtiert Shepard hier als naiven, gutherzigen und lebenslustigen Jüngling. Das Oratorium verklärt so etwas die realhistorische Person Matthew Shepard.
Heute legt eine vieldiskutierten Veröffentlichung des mehrfach preisgekrönten US-amerikanischen Journalisten Stephen Jimenez nahe, dass Matthew süchtig nach Crystal Meth war und auch Erfahrungen mit Heroin gemacht hatte. Der laut eigener Aussage schwule Journalist Jimenez recherchierte kurz nach Shepards Ermordung am Tatort Laramie und arbeitete 13 Jahre an der Publikation The Book of Matt (2013). Jimenez’ Gesprächen mit Zeitzeugen zufolge ging Matthew als drogensüchtiger Stricher sexuelle Risiken ein und verkehrte auch gelegentlich sexuell mit einem seiner Mörder. Shepard litt Jimenez zufolge an Depressionen, möglicherweise Folgen einer Gruppenvergewaltigung in Marokko. Jimenez behauptet in seiner publizistischen Morduntersuchung, dass Matthew zum Todeszeitpunkt HIV-positiv war und dass seine Mörder eine Lieferung Crystal Meth im Wert von 10.000 Euro stehlen wollten, zu der Matthew Zugang hatte. Jimenez erhielt viel Lob und Kritik für seine Publikation.
Da auch die Täter vor Gericht widersprüchliche Aussagen machten, bleibt der Hintergrund für das Verbrechen unklar.
Das Hauptaugenmerk des knapp zweistündigen Oratoriums liegt auf der Zeit nach der Ermordung Shepards. Es kommen viele Unbeteiligte zu Wort, die gesanglich ihre Anteilnahme am Schicksal Shepards oder auch eigene Homofeindlichkeit ausdrücken. So vertritt die US-amerikanische Sängerin Onita Boone ausdrucksstark die Stimme schwulenfeindlicher Demonstranten wie der Westboro Baptist Church, die bei der realen Beerdigung Shepards homofeindliche Parolen rief. Mit charismatischen Solos stechen außerdem Fabian Böhle, der Tenor Johannes Leander Maas und die Sopranistin Lotte Verstaen hervor.
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Schlussapplaus für die Solist*innen in Considering Matthew Shepard im Funkhaus Wallraffplatz in Köln | Foto © Ansgar Skoda
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Das Konzert wurde im Livestream übertragen und wirkte für viele seiner Zuschauer aufwühlend.
Viele der Songs stellen Fragen, eröffnen Gedanken, die den Schmerz, die Verletzungen und die bezeichnende Würdelosigkeit von Shepards Situation betreffen, berühren und veranschaulichen. Das Musical-Oratorium hat dabei nicht den Anspruch, die Gefühle dieses Opfers nachvollziehbar machen zu wollen oder die Sichtweise der Täter aufzuzeigen, sondern stellt die verschiedensten Perspektiven anderer Menschen dar, die mit diesem Verbrechen konfrontiert wurden.
Trotzdem nahm an diesem Abend alleine schon die ungewöhnliche Idee und die ungestüme Intensität der Inszenierung gefangen. Und ungeachtet der Unklarheiten und Kontroversen über den Tathergang und -hintergrund ist es doch ein gelungener und solidarischer Versuch den Opfern antischwuler Gewalt noch einmal nahe sein zu können. Ein emotionsreiches Ausnahme- Event, das nicht nur die Kölner Community berühren dürfte. Es sind weitere Aufführungen mit anderen Ensembles anlässlich des CSDs im deutschsprachigem Raum geplant. Obwohl Considering Matthew Shepard ein tragisches Ereignis schildert, ist das Musical-Oratorium auch eine hoffnungsvolle Geschichte. Denn schlussendlich verkünden die Akteure und Solisten auf der Bühne, dass Liebe und Vergebung triumphieren werden.
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Ansgar Skoda - 4. Juli 2022 ID 13699
CONSIDERING MATTHEW SHEPARD (Funkhaus Wallrafplatz Köln, 01.07.2022)
Musical-Oratorium von Craig Hella Johnson
Mit: Barbara Obermeier, Marie-Anjes Lumpp, Schirin Partowi, Onita Boone, Lotte Verstaen, Oliver Morschel, Fabian Böhle, David Howes und Johannes Leander Maas (Gesang) sowie Shary Reeves und Thomas Hermanns (Sprecher:innen)
WDR Rundfunkchor
Musiker:innen des WDR Funkhausorchesters
Dirigent: Simon Halsey
Weitere Infos siehe auch: https://www1.wdr.de/orchester-und-chor/rundfunkchor/index.html
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