Herrndorfs Krebstagebuch
zu Haydns Passionsmusik
"Musik trifft Literatur" in der Kölner Philharmonie
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Bewertung:
Zu der Reihe "Musik trifft Literatur" lädt die Kölner Philharmonie regelmäßig bekannte Schauspieler in ihren großzügigen Konzertsaal. 2022 überraschte beispielsweise Martina Gedeck mit einer fesselnden Interpretation von bekannter Lyrik und anderen kurzen literarischen Texten zu Musik für Bariton und Klavier.
Jetzt war Birgit Minichmayr da und las autobiographische Prosatexte von Wolfgang Herrndorf (1965-2013) - jener schrieb Arbeit und Struktur in den letzten dreieinhalb Jahren seines Lebens als Tagebuch oder Gebrauchstext. Es handelt von seiner Verzweiflung angesichts der Diagnose seines Hirntumors bis zu skizzenhaft notierten Begegnungen mit Vertrauten kurz vor seinem Suizid. Er begann sein teils intimes Weblog einen Tag nach seiner Einlieferung in die Psychiatrie eines Berliner Klinikums und kurz nach der ersten Operation und der endgültigen Diagnose eines Glioblastoms als privates Mitteilungsmedium für Freunde. Es wurde erst später in leicht abgeänderter Form veröffentlicht und erschien nach seinem Suizid 2013 bei Rowohlt.
Eingangs gibt Minichmayr Herrndorfs Drang zu regelmäßigen Aufzeichnungen wieder, den er in seinem Notizbuch als Wunsch festhielt. Regelmäßiges Schreiben diente ihm dabei, seiner Krankheit mit „Arbeit und Struktur“, täglichen Übungen, Aufzeichnungen zu Medikationen und Untersuchungsabläufen, zu begegnen. Diese titelgebenden Worte seines Blogs wiederholt Minichmayr ausdrucksvoll. Wiedergegebene nüchterne Protokolle, Statistiken oder Fakten drücken dabei auch die Hoffnung aus, die eigene Krankheit emotional distanziert und beobachtend annehmen und den eigenen geistigen Zustand regelmäßig prüfen zu können. Andere teils bittere Passagen, die Minichmayr lebendig vorträgt, handeln von Schlaflosigkeit oder verpassten Lebenschancen.
Zwischen den leidenschaftlich vorgetragenen Passagen interpretiert das mit 33 Musikerinnen und Musikern groß besetzte Kammerorchester Ensemble Resonanz eindringlich unter dem Dirigat des Italieners Riccardo Minasi die wellenförmig aufbrausende Musik von Joseph Haydns (1732-1809) Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze Hob. XX/1:A.
Haydns Passionsstück, als Auftragskomposition 1785 für die Karfreitags-Zeremonie in der spanischen Hafenstadt Cadiz komponiert, widmet sich ebenfalls dem Tod und Sterben. Streicher und Bläser setzen effektvoll Akzente. In sieben langsamen Sätzen entfaltet die Musik eine kontemplative Wirkung. Pathetische Klänge, wechselnde Rhythmen und schwermütige Dissonanzen bringen Stimmungen von Leid, Trost, Hoffnung oder Schmerz zum schwingen.
Obwohl Herrndorf in seinem Tagebuch die Kompositionen Bachs als einzig richtige Musik hervorhebt, fand das Ensemble Resonanz mit Haydns Werk einen spannungsvollen Kontrapunkt zu Herrndorfs Texten, die Minichmayr sogar einmal während des Spiels spricht.
Für die musikalische Lesung wurden viele Abschnitte aus Arbeit und Struktur ausgewählt, die über die existentielle Krankheit als fremdbestimmtes Moment und über das durch Suizid trotzdem mögliche selbstbestimmte Sterben reflektieren. Die mitunter auch komischen Texte lassen (selbst-)therapeutischen Charakter erkennen, sind durchaus literarisch vielschichtig und können wohl nicht nur auf Menschen in einer vergleichbaren Situation, wenn sie sich darauf einlassen, tröstend wirken. Ein stimmungsvoller und eindrücklicher Abend neigt sich gegen 22 Uhr dem Ende zu.
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Birgit Minichmayr und das Ensemble Resonanz (Dirigent: Riccardo Minasi) nach "Musik trifft Literatur" am 3. April 2023 in der Kölner Philharmonie | Foto: Ansgar Skoda
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Ansgar Skoda - 8. April 2023 ID 14139
Weitere Infos siehe auch: https://www.koelner-philharmonie.de
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