„Alle Hände hoch!“
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Deichkind in der Kölner Lanxess Arena | Foto © Ansgar Skoda
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Bewertung:
Unsere kleine Reisegruppe strandet zunächst auf einem Abstellgleis des Bahnareals hinter Köln-Deutz. Aufgrund einer Türstörung der verspäteten RB26 fristen wir hier mit anderen Hinterbliebenen eine kurze Auszeit. Wir erfahren, dass unsere feierwilligen Leidensgenossen auch auf das Deichkind-Konzert möchten. Auf der Rückfahrt nach Deutz dann noch ein kleiner Dämpfer: ein Rollstuhlfahrer - ebenfalls von der Türstörung in Deutz betroffen - muss über Köln Hauptbahnhof zur Show anreisen, da es in Deutz keine Fahrstühle zum Ausgang gibt. Leider verpassen wir so das Set des Supports, werden während des Konzertes jedoch für jedwede Unannehmlichkeiten entschädigt.
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Die Hamburger Elektro-Hip-Hopper von Deichkind gibt es schon seit über einem Vierteljahrhundert. Sie gründete sich 1997 und wurde 2000 mit dem Hit „Bon Voyage“ bekannt, den sie zusammen mit Nina MC interpretierten. Deichkind gehören zur alten Hamburger Schule und gelten als Pioniere der Elektronisierung des Rap. 2008 gelang den Hanseaten der Durchbruch mit dem Album Arbeit nervt, noch erfolgreicher war dann jedoch Befehl von ganz unten von 2012. Der Hit „Leider geil“ wurde vom Bundesverband Musikindustrie mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Der Tech-Rap, Punk und die basslastigen Beats der mittlerweile acht Band-Platten sind geprägt von ironischen Lyrics. Es gab Wechsel in der Band-Besetzung und Produzent Sebastian „Sebi“ Hackert verstarb 2009. Einige der bunt durchmischten Konzertbesucher gehören zur Deichkind-Fangemeinde der ersten Stunde. Sie alterten zusammen mit der Band, so trifft es sich gut, dass Deichkind ihre diesjährige Deutschlandtournee bis zum 21. Dezember unter das Motto Kids in meinem Alter stellen.
In der Kölner Lanxess Arena bebt und vibriert der Boden von den hüpfenden Fans. Die Bühne ist vor Beginn hinter einem riesigen Vorhang verborgen, auf dem gegen 20 Uhr die Bandmitglieder als übergroße Silhouetten sichtbar werden. Die norddeutsche Rap-Formation um Bandgründer Philipp Grütering alias Kryptik Joe, Sebastian Dürre alias Porky und Henning Besser alias La Perla erweitern zahlreichen Teamkollegen wie Tänzer, Rapper und Akteure für die Live-Show. Gleich zu Beginn fordern Deichkind ihr Publikum auf: „Alle Hände hoch!“ Die Musik kommt größtenteils von Band.
Choreographische Einlagen in verschiedenen aufwendigen Hintergrund-Sets halten in Atem. Ferngesteuerte, umherfahrende Blöcke wechseln die Positionen. Die Rapper und Tänzer halten Leuchtstäbe in ihren Händen und tragen ausgefallene Kostüme wie digital blinkende, geometrische Tetraeder-Hüte und komische Brillen. Zu „Auch im Bentley wird geweint“ fährt ein komplett vermummter Sänger Rodeo auf einer Gucci-Handtasche, während die anderen um ihn herum kunstvoll kreisen. Über die feiernde Menge schießen die Künstler regelmäßig Luftschlangen. Für ein Erinnerungsfoto mit der Menge packt Bandchef Kryptik Joe umständlich ein metergroßes Mega-Smartphone mit Giga-Selfiestick aus. Das Ensemble freut sich über den kreiselnden Moshpit und die Pogos unter den Konzertbesuchern.
Zu „Roll das Fass rein“ und „Niveau Weshalb Warum“ wird ein Riesenfass durch die Menge der Arena gezogen. Zwei Rapper wippen im, mit Camouflage-Grundierungen bemaltem Holzfass; einer schwingt, obenauf sitzend, eine riesige Fahne über die tobende Menge. Auf der Fahne steht geschrieben: "Teilen hier alle Anwesenden die Meinung, dass ‚Könnt ihr noch?‘ im aktuellen Zustand der Welt eine gute Frage ist?" Im hier angesprochenen und kurz zuvor vorgetragenen Song „Könnt ihr noch?“ verweisen Deichkind auf die Klimakrise und die aktuellen Kriege, wie etwa den russischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg innerhalb Europas. Auch in „Die Welt ist fertig“, den die Hip-Hop-Pioniere vor begeistertem Publikum performen, geht es um die Erschöpfung der Erdressourcen.
Ein weiteres Highlight ist der Vortrag von „Bück dich Hoch“. Sieben Deichkind-Männer führen eine kreiselnde und surfende Choreographie auf Bürostühlen zur Karrieristen-Hymne für duckmäuserische Diener vor. Bemerkenswert hellsichtig auch die Politbotschaft beim Song „Arbeit nervt“, gerade auch anlässlich der anstehenden Wahlen im kommenden Frühjahr, wenn die sieben Buchstaben auf den Stuhlrückseiten in Reihenfolge sichtbar werden: „F“, „U“, „C“, „K“, „A“, „F“, „D“.
Crowdsurfing schließlich auf besondere Art: Gegen Ende hopst zu „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ aus dem Album Aufstand im Schlaraffenland (2009) ein Rapper in Badehose auf einem wippenden 30-Mann-Schlauchboot. Das Boot, geformt wie ein Schwimmreifen, wird von den Händen des Publikums durch die Menge getragen. Bewaffnet mit einem großen Kissen, entlässt der Rapper viele weiße Federn in das Publikum. Die vorderen Reihen werden derweil von der Band mit Trinkbarem verköstigt. Zu guter Letzt befragt die Band das Durchhaltevermögen seines Publikums wie bei einer Challenge. Ein in die Luft emporgehobener Solist singt hymnische Zeilen aus „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood, um von Deichkind-Rap abgelöst zu werden. Es treten ganz viele bunte Kostümträger mit Requisiten auf die Bühne und es werden Ringelreigen getanzt.
Ein euphorisierender, energiegelader Exzess entlädt sich in lauten Hall-Vibrationen. Der mitreißende Gig voll schriller Outfits und Choreographien endet nach knapp zwei Stunden mit einem fallenden Vorhang und der Aufschrift „Gute Nacht Kinder!“ Polit-Sidekick: Vorne wurde zuvor noch eine Pappmache-Puppe platziert, die dem noch amtierenden US-Präsidenten Joe Biden mit Corona-Maske ähnlich sieht. An Bidens Sitz hängen schwebende Helium-Luftballons mit den Buchstaben „Leider Geil“, der wohl bekannteste Song der Hanseaten. Anlässlich der nächsten, bangenden Trump-Regentschaft lassen weitere kommentierende Verse von Deichkind auf sich hoffen.
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Deichkind in der Kölner Lanxess Arena | Foto © Ansgar Skoda
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Ansgar Skoda - 9. Dezember 2024 ID 15049
Weitere Infos siehe auch: https://www.deichkind.de/
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