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Konzertkritik

Musikalisches

Schlaraffenland



Bewertung:    



Dieses Konzert, das auf seiner Tournee durch mehrere Städte im Ludwigsburger Forum am Schlosspark Halt machte, war in mehrerer Hinsicht unkonventionell und für das eher konservative Publikum am Ort wohl überraschend. Da ist zunächst die Violinistin Alina Pogostkina, die neunjährig mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland emigrierte und jetzt in Berlin lebt. Da ist einer der interessantesten Dirigenten der vergangenen Jahrzehnte, Dennis Russell Davies, dessen Curriculum Vitae einer Fahrt auf einer Achterbahn gleicht. Seit er nach erfolgreichen Engagements in seiner amerikanischen Heimat nach Europa kam, hat der inzwischen 79jährige das Württembergische Staatsorchester Stuttgart und das Stuttgarter Kammerorchester, das Orchester der Beethovenhalle Bonn, das Radio-Symphonieorchester Wien, das Bruckner Orchester Linz, das Sinfonieorchester Basel und die Philharmonie Brünn geleitet. Seit 2020 ist er neben seinem Brünner Posten Chefdirigent des makellos musizierenden MDR-Sinfonieorchesters. Mit diesem gastierte er auch in Ludwigsburg. (Nebenbei: was wäre die deutsche Musiklandschaft ohne ihre Rundfunkorchester? In der Vergangenheit eher unbeachtet, kann man ihre Funktion und ihre Qualität heute gar nicht hoch genug einschätzen. Sie sind das Ergebnis einmal der historisch bedingten föderalen Struktur Deutschlands und dann des oft und zu Recht gescholtenen, aber eben auch in vieler Hinsicht verdienstvollen öffentlich-rechtlichen Rundfunks.)

Und hernach das Programm. Boris Blacher zählt nicht eben zum Kernrepertoire des Konzertbetriebs. Von ihm waren die Paganini-Variationen für Orchester zu hören. Paganini hat ja immer wieder, von Brahms und Rachmaninow bis Lloyd Webber, dazu eingeladen, seine Themen zu variieren. Es ist freilich nicht ohne Ironie, dass in einem Konzert, das eine Soloviolinistin ankündigt, ein Werk, das von einem Meistergeiger für Solovioline geschrieben wurde, das erste der 24 Capricci op. 1 für Violine solo, in einer Bearbeitung für Orchester gespielt wird. Nur ganz zu Beginn darf die Konzertmeisterin das Hauptmotiv einführen. Danach weit und breit keine Solovioline. Frau Pogostkina muss in der Garderobe warten.

Ursprünglich waren anstelle von Blachers Variationen Leonard Bernsteins Sinfonische Tänze aus West Side Story vorgesehen. Unterwegs wurde Blacher auch gegen Ligetis Concert Românesc ausgetauscht. Warum man es dem Ludwigsburger Publikum vorenthalten hat, bleibt ein Objekt der Spekulation. Die Paganini-Variationen kann man einer gemäßigten Moderne zurechnen. Für die Zeit ihrer Entstehung – 1947 – sind sie eher rückwärtsgewandt als avantgardistisch. Man könnte an den Russen Rimski-Korsakow denken. Blacher entfernt sich in den ineinander übergehenden Variationen weit vom Thema, lässt dann das Einleitungsmotiv kurz aufblitzen wie eine Reminiszenz. Davies arbeitet die intelligente Instrumentierung heraus, den Kontrast zwischen Bläsern und Streichern.

Nach den Paganini-Variationen erklang „The Lark Ascending“ für Violine und kleines Orchester von Ralph Vaughan Williams, die herausfordert zum Vergleich mit Ciocârlia (Die Lerche) von Angheluș Dinicu in der populären Bearbeitung seines Enkels Grigoraș Dinicu und sich dazu verhält wie eine britisch domestizierte Lerche mit Schirm und Melone zur Vitalität der Sinti und Roma. Hier kommt nun die Solistin, eine elegante Erscheinung, wie von Gustav Klimt gemalt, zur Geltung mit ihrem lyrischen, der menschlichen Stimme angenäherten Strich. Ihr Spiel ist expressiv, aber nicht laut. Am Ende verklingt das Stück in einer Solo-Coda. Die Lerche ist entschwunden.

Und schließlich, nach so viel Ungewohntem, Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 Aus der neuen Welt. Und wieder arbeitet Dennis Russel Davies die dynamischen Unterschiede, die Crescendi und Diminuendi minutiös heraus. Der Anfang des zweiten Satzes klingt atemberaubend schön und tieftraurig. So transparent hat man Dvořáks Neunte selten gehört.

Ob Blacher oder Ligeti: mit dem Schlaraffenlandtrick ködert man die Zögernden. Man muss sich durch den Grießberg der Moderne fressen, um an die Verlockungen der „neuen Welt“ zu gelangen, wo Milch und Honig fließen.

Am Schluss: Stürmischer Applaus. Dennis Russell Davies verneigte sich mehr vor dem Orchester als vor dem Publikum. Zu Recht.



Alina Pogostkina | Foto (C) Nikolaj Lund; Bildquelle: forum.ludwigsburg.de

Thomas Rothschild - 10. Juli 2023
ID 14283
MDR-SINFONIEORCHESTER (Forum am Schlosspark Ludwigsburg, 09.07.2023)
Boris Blacher: Paganini-Variationen für Orchester
Ralph Vaughan Williams: The Lark Ascending für Violine und kleines Orchester (1914) Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 Aus der neuen Welt
Alina Pogostkina, Violine
MDR-Sinfonieorchester
Dirigent: Dennis Russell Davies


Weitere Infos siehe auch: https://www.mdr.de/klassik/mdr-sinfonieorchester


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