Töriger Herr
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Daniel Brenna als Siegfried an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
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Bewertung:
Der neue Stuttgarter Ring, der sich aus extrem heterogenen Regiehandschriften zusammensetzt, ist bei Teil 3 angekommen. Anders aber als bei den bereits aufgeführten ersten zwei und dem für Januar 2023 vorgesehenen vierten Teil, handelt es sich bei Siegfried nicht um eine Neuproduktion, sondern um eine Neueinstudierung der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito aus dem vorausgegangenen, ebenfalls uneinheitlichen und unisono gefeierten Ring von 1999. Sagen wir es bündig: Sie hat die inzwischen verflossenen 23 Jahre gut überstanden. Ob sie in der neuen Kombination den richtigen Platz gefunden hat, wird man erst begründet beurteilen können, wenn die Götterdämmerung sie abgeschlossen hat. So viel kann man aber bereits sagen: So unmittelbar einleuchtend wie seinerzeit ist die Mischung von Regiekonzepten diesmal nicht. Man mag den Eindruck gewinnen, dass der Intendant Viktor Schoner, der für Marktmechanismen nicht ganz unempfänglich ist, den Vorgänger einfach überbieten wollte, ohne sich allzu viel Gedanken über die Stimmigkeit zu machen. Es bleibt ein Experiment mit offenem Ausgang.
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Die märchenhaften Elemente des Stoffes bleiben bei Wieler und Morabito nur im Dialog erhalten. Ihre Umsetzung ist weitgehend rationalistisch. So ist Fafner ein ganz normaler Mensch. Kein Anzeichen von Drachen. Der Wanderer trägt Jeans, Lederjacke und Baseballkappe: ein sehr menschlicher Wotan, auch, woran Erda ihn erinnert, ein doppelzüngiger Heuchler. Brünnhilde, mit Handspiegel und Haarspray, agiert nach dem Willen der Regie komisch, singt aber innig-ernsthaft. Das geht gut zusammen.
Ironie legt allerdings eine heutige Lektüre von Wagners Text nahe. Es fällt schwer, bei den vielen „Heil“-Rufen nicht zusammenzuzucken. In der englischen Übertitelung wird das belastete Wort denn auch mal mit „Greetings“, mal mit „Blessings“ übersetzt. Alas. Das deutschsprachige Publikum ist erkennbar amüsiert.
Die Besetzung besteht – eine mutige Entscheidung – mit zwei Ausnahmen ausschließlich aus Rollendebüts. Die Ausnahmen: der Stuttgarter Liebling Matthias Klink als nichts weniger als zwergenhafter Mime und Daniel Brenna anstelle von Jon Fredric West in der Titelrolle. West, mit ausgeprägtem Bauch und strähnigem Haar, überraschte 1999 als ganz und gar unheldischer Siegfried. Wieler und Morabito nahmen Brünnhilde beim Wort, die den unschuldig-brünstigen Liebhaber ein „wonniges Kind“ nennt. „O kindischer Held! O herrlicher Knabe! Du hehrster Taten töriger Herr!“ Jossi Wieler, der die Neueinstudierung höchstpersönlich betreute, hat dafür gesorgt, dass das Original fast erreicht wird.
Mit Simone Schneider und Stine Marie Fischer hat dieser Siegfried eine Brünnhilde und eine Erda anzubieten, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Sie erinnern an die Zeiten, als Stuttgart mit dem Titel „Winter-Bayreuth“ geadelt wurde. Hervorgehoben sei noch Tommi Hakala, dessen Wanderer mit seinem kräftigen, vollen Bariton die Antagonisten fast zuzudecken droht.
Die eigentliche Sensation des Abends aber kommt aus dem Orchestergraben. Cornelius Meister, dessen Vertrag – eine lobenswerte Entscheidung – eben erst verlängert wurde, dirigiert das Staatsorchester Stuttgart mit einer kaum überbietbaren Konzentration und Dichte. Vom ersten Takt der Ouvertüre an ist Wagners Musik bei ihm so unheimlich spannungsgeladen, wie man sie selten gehört hat. Stellenweise scheint das Orchester gegenüber den Sängern die Führung zu übernehmen. Das mögen manche Ideologen kritisieren. Aber es hört sich gut an. Dieser Siegfried sollte künftig unter den Namen Wieler, Morabito und Meister zitiert werden.
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Tommi Hakkala (Wanderer) und Daniel Brenna (Titelrolle) in Siegfried an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
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Thomas Rothschild - 10. Oktober 2022 ID 13850
SIEGFRIED (Opernhaus Stuttgart, 09.10.2022)
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Licht: Dieter Billino
Besetzung:
Siegfried ... Daniel Brenna
Mime ... Matthias Klink
Der Wanderer ... Tommi Hakala
Alberich ... Alexandre Duhamel
Fafner ... David Steffens
Stimme eines Waldvogels ... Beate Ritter
Erda ... Stine Marie Fischer
Brünnhilde ... Simone Schneider
Staatsorchester Stuttgart
Premiere der Neueinstudierung an der Staatsoper Stuttgart: 9. Oktober 2022
Weitere Termine: 15., 23.10./ 01.11.2022// 10.03./ 08.04.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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