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Premierenkritik

Im Takt der

Großstadt

SURROGATE CITIES mit dem
Ballett am Rhein


Miquel Martínez Pedro in Surrogate Cities von Demis Volpi | Foto © Bettina Stöß

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Ein Wimmelbild gleich zu Beginn: etwa vierzig Tänzer und achtzig Musiker schlendern nacheinander herein. Die Musiker setzen sich auf der hinteren Bühne, ein Orchestergraben fehlt. Die Tänzer nehmen bald sich ihnen zugewendet mit dem Rücken zum Publikum Platz. Später rangeln sie miteinander und rennen, lieben sich oder verzweifeln. Stimmungen und Szenen wechseln. Kollektive Posen und imposante Gruppentableaus gehen über in Schrittfolgen und Hebungen. Eine eigentliche Handlung wird nicht erzählt, so laufen Szenen ohne Interaktion parallel nebeneinander. Es rasselt mechanisch und heult geräuschvoll, raunt, dröhnt und kracht. Die groß besetzten Düsseldorfer Symphoniker spielen unter der Leitung von Vitali Alekseenok auch mal fast sanfte Melodien.

Surrogate Cities (dt. „Ersatzstädte“) widmet sich dem Flair und Lebensgefühl der Großstadt. Heiner Goebbels' zugrunde liegende, gleichnamige Komposition von 1994 ist von vielfarbigen, komplexen, sehr rhythmischen Geräuschen des Alltags geprägt. Jazz-, Blues-, Pop-und Elektronik-Elemente bereichern die sechs, an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf uraufgeführten, experimentellen Szenen. Stile gehen ineinander über, eine musikalisch eindrückliche Bandbreite wird neben, oft nicht miteinander verbundenen, tänzerischen Elementen dargeboten. Urbanität kann als hektisch erlebt werden; doch die Metropole kann ebenso ruhige Heimat oder ein Ort der Sehnsucht sein.

Rechts und links vorne deuten Stahlträger-Konstruktionen eine Industrie-Landschaft an (Bühne: Katharina Schlipf). Eingangs lässt der Soloposaunist Matthias Muche teils schrille und teils dumpf vibrirende Töne erklingen. Ein Tänzer (Miquel Martinez Pedro) bebildert das Solo, indem er ausdrucksstark bebend seine Arme und Hände zu den Klängen balanciert.

Später kommen dröhnende Metallbleche oder eingespielte Sampler zum Einsatz. Auch Ölfässer dienen als Perkussion-Schlagwerk. Holzbläser und Streicher setzen Akzente. Eine Jazzsängerin, die Sopranistin Tamara Lukasheva, trägt Texte vor, etwa von Heiner Müller. Später wird aus einem Werk des jüngst verstorbenen Paul Auster rezitiert, dem apokalyptischen The Country of Last Things. Auch der Tänzer Jack Bruce hat in einer Schlüsselszene eine beeindruckende Sprechrolle.

Beide Geschlechter tragen schwarze Anzüge und Hosen, die sie bald abstreifen (Kostüme: Thomas Lempertz). Szenen erinnern teilweise an Pina Bausch, wenn Tänzerinnen und Tänzer eine Reihe bilden, die sich stets verlängert. Sie reichen stilisiert Hüte an ihre jeweiligen Nachbarn weiter, die am Ende der Reihe zu Boden fallen und sogleich wieder emporgehoben werden.

Die beiden Tänzer Joaquin Angelucci und Evan L’Hirondelle tanzen in inniger Partnerarbeit mit synchronisierten Bewegungen und eleganten Hebungen ein sinnliches Pas des deux. Arme und Finger umgreifen einander. Einfühlsam werden auch Soli dargeboten, etwa von Vinicius Vieira mit effektvoll sprühenden, handlichen Nebelmaschinen. Clara Nougué-Cazenave wird in einer Szene von Joaquin Angelucci, Edvin Somai, Nelson López Garlo und Philip Handschin getragen, wobei mehrere ihr überlanges Haar schützend emporheben. Die machtvoll Schwebende hat während der gesamten Szene kaum Bodenkontakt.

Abgehackte Bewegungsfolgen gehen über in Sprünge, Pirouetten-Drehungen oder kunstvolle Linien. Ein Riese überrascht auf der Bühne. Hier verbirgt eine Tänzerin unter ihrem übergroßen Mantel den Tanzpartner, auf dessen Schultern sie steht. Die über drei Meter fassende Gestalt irritiert die ihr zugewandte Tänzerin unter sich, die sich trotzdem auf ein Duett einlässt. Beeindruckend sind besonders Bilder einer sich auftürmenden Masse ineinander verwobener Körper, die interagieren oder miteinander durch Seile wabernd umschlungen werden.

Der deutsch-argentinische Choreograph Demis Volpi schuf mit Surrogate Cities ein herausforderndes, rhythmisch kraftvolles, vielstimmiges und anspielungsreiches Ballett. Die zwei Stunden lange, durch eine Pause unterbrochene, abendfüllende Choreografie des 38-Jährigen erscheint nicht immer schlüssig und oft etwas abstrakt oder artifiziell. Im großen und ganzen bietet sie jedoch eine abwechslungsreiche Bilderfülle, ist monumental, unterhaltsam und stimmungsvoll.



Demis Volpis Surrogate Cities mit dem Ballett am Rhein | Foto © Bettina Stöß

Ansgar Skoda - 11. Mai 2024
ID 14742
SURROGATE CITIES (Opernhaus Düsseldorf, 09.05.2024)
Choreographie: Demis Volpi
Musik: Heiner Goebbels
Bühne: Katharina Schlipf
Kostüme: Thomas Lempertz
Licht: Elana Siberski
Dramaturgie: Julia Schinke
Sopran: Tamara Lukasheva
Soloposaunist: Matthias Muche
Akrobatin: Susanne Kahl
Mit: Camilla Agraso, Paula Alves, Joaquin Angelucci, Yara Araujo De Azevedo, Daniele Bonelli, Yoav Bosidan, Jack Bruce, Gustavo Carvalho, Maria Luisa Castillo Yoshida, Wun Sze Chan, Lara Delfino, Orazio Di Bella, Sara Giovanelli, Philip Handschin, Futaba Ishizaki, Charlotte Kragh, Evan L'Hirondelle, Samuel López Legaspi, Nelson López Garlo, Norma Magalhães, Pedro Maricato, Miquel Martínez Pedro, Neshama Nashman, Clara Nougué-Cazenave, Rose Nougué-Cazenave, Marco Nestola, Emilia Peredo Aguirre, Ako Sago, Dukin Seo, Courtney Skalnik, Kauan Soares, Edvin Somai, Damián Torío, Andrea Tozza, Vinícius Vieira, Elisabeth Vincenti, Imogen Walters und Long Zou
BALLETT AM RHEIN
Düsseldorfer Symphoniker
Dirigent: Vitali Alekseenok
Premiere war am 26. April 2024.
Weitere Termine: 11., 19.5.2024


https://www.operamrhein.de/ueber-uns/ballett/


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