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CD-Kritik

Brahms´

Seele





Bewertung:    



Auch Kompositionen von Johannes Brahms enthalten Autobiografisches, will sagen, dass es bei Musikwerken mitunter nicht viel anders ist als bei Romanen und Erzählungen, wo man beim Lesen deren Schöpfer, trotz dass sie sich nicht direkt also mit Name und Adresse zu erkennen geben, "identifizieren" kann; und nicht nur in den Buddenbrooks von Thomas Mann, im Spieler Dostojewskis, in Genets Tagebuch eines Diebes oder in dem Sommerstück von Christa Wolf [als willkürlich gewählte Beispiele unter zig tausenden] lässt sich das meistens gut belegen.

Und gut möglich, dass sich das grandiose Aris Quartett, das jetzt auf seiner neuesten CD zwei große Schlüsselwerke Brahms'scher Kammermusik veröffentlichte, ähnliche Gedanken machte, als es sie im Februar d.J. einspielte.



"Im Mai 1873 war Brahms 40 geworden, eine Grenze zum 'reifen' Alter, die er sehr bewusst überschritt und reflektierte. Im tragischen ersten Satz des c-Moll-Quartetts", klärt uns das Booklet von Karl Böhmer auf, "scheint er die Stürme und Nöte der zwei zurück liegenden Jahrzehnte verarbeitet zu haben: das tragische Ende seines Freundes und Mentors Schumann, das Scheitern aller Hochzeitspläne und vieler Freundschaften. In seinem tragischen Tonfall und dem ständigen Changieren zwischen wildem Vorwärtsdrang und ermattendem Zurücksinken" würde dieser erste Satz aus dem Quartett op. 51, 1 auch an den Kopfsatz von Brahms' Erster Sinfonie erinnern.


Dass Brahms nicht nur fürs 1. Streichquartett die "Schicksalstonart" wählte, lag wohl nachgewiesnermaßen an den autobiografischen Erlebnissen von 1873 bis 1876; ja, auch die besagte 1. Sinfonie und das 3. Klavierquartett hatte er in c-Moll verfasst.

Was all die psychologisierende Durchforstung dieses Werkes zusätzlich noch so befeuert, war und ist die Tatsache, dass Brahms sich nicht etwa erst, als er 40 war, das Streichquartette-Komponieren vornahm - zwei Jahrzehnte vorher hatte er sich schon in dieser Königsdisziplin versucht und alle 20 (!) Werke, die er bis da schuf, verworfen und vernichtet; also war für ihn das Streichquartett an sich so derart wichtig und bedeutungsvoll, dass er "es", wenn auch voller Zweifel, ruhig gedeihen lassen wollte.

*

Das erste (und vielleicht noch immer "beste" und wahrscheinlich nach wie vor "berühmteste") Klarinettenquintett schrieb Mozart 1789; und ich weiß bis heute nicht, wieoft ich es mir anhörte... Jetzt endlich lernte ich - beschämend überfällig - das h-Moll-Klarinettenquintett von Brahms kennen!

Die zwei Geigerinnen Anna Katharina Wildermuth und Noemi Zipperling, der Bratschist Caspar Vinzens sowie der Cellist Lukas Sieber komplettierten ihr Aris Quartett - für dieses Stück - mit dem Klarinettisten Thorsten Johanns.

Ein durchgehender Hauch von schönster Traurigkeit lastet auf diesem Stück und macht es dennoch leicht, ja fast schon schwerelos. Auch wollte man in ihm gar einen "sehnsüchtigen" Abgesang vom Fin de siècle sehen; ja und eigentlich steckt in ihm, wie in allen großen Werken sowieso, sowohl das eine (Traurigschwere) wie das andere (Frohleichte) drin. Nachsummbar ist z.B. jene Hirtenfantasie der Solo-Klarinette im Adagio. Brahms' affirmativer Hang zum Ungarischen wird zudem bestätigt in den "sehnsüchtigen Zigeunermelodien" (lt. Böhmer), die im Variationsfinale zu vernehmen sind.

Mit seiner neuen CD gelingt es dem Aris Quartett, dass seine Hörer sich nicht nur am hochvorzüglich manifestierten Ensembleklang erfreuen, sondern auch zu einer näheren und weiteren Beschäftigung mit Brahms' Künstler- und Menschenleben animiert fühlen - danke hierfür.



Andre Sokolowski - 20. November 2020
ID 12613
Werke von Johannes Brahms | Aris Quartett
Brahms: Quartett c-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 51.1
- Quintett h-Moll für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello, op.115
Aris Quartett
Anna Katharina Wildermuth, Violine
Noemi Zipperling, Violine
Caspar Vinzens, Viola
Lukas Sieber, Violoncello

Thorsten Johanns, Klarinette
Label: GENUIN classics (GEN 20704)
Erstveröffentlicht am 1. Oktober 2020


https://www.arisquartett.de/


http://www.andre-sokolowski.de

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