5. bis 15. Juli 2012, Festival INFEKTION!
DIE MUSIK IST LOS - 100 JAHRE CAGE
Im Gespräch mit Jens Schroth
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John Cage - Foto (C) Betty Freeman, Courtesy of the John Cage Trust
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John Cage zum Hundertsten
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[Wir hatten uns für heute (Dienstag, 10. Juli 2012, 13 Uhr) mit Jens Schroth per Facebook zu einem einstündigen Chat über John Cage und anderes verabredet. Es klappte wunderbar - und wenn er nicht terminlich "weggerissen" worden wäre, hätten wir wahrscheinlich noch bis abends lustig hin und her gechattet... A. S.]
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Hallo Jens, pünktlich wie ein Maurer!!
Ja, man gibt sich größte Mühe, nicht alles dem Zufall zu überlassen.
Was ist los bei euch in der WERKSTATT? Sonntagabend - vor und in der Pause zum Dionysos - dachte ich da draußen (Vorplatz und Foyer), ich sehe und ich höre nicht ganz richtig. Happening total!
Ja was war da am Sonntag los? Ein bißchen Songbooks für umsonst für das geneigte Premierenpublikum, in der Pause machte der Abt des hiesigen Shaolinklosters Tai-Chi mit den Besuchern und auch Mitwirkenden der Cage-Werkstatt, und an dem Cagianischen Klangmobile konnte man auch rumspielen, dannach gings weiter mit Ives und Joyce und Cage und Pilzen, und das gibts jetzt halt jeden Abend bis in die Nacht. Meistens weiß ich vorher auch nicht so genau, was passiert. Das Ganze hat natürlich was von Happening, weil halt was passiert, was in einem Rahmen passiert, in dem es normalerweise nicht passiert, und das ist ja das Schöne dabei. Wenn man es nicht wahrnimmt, passiert es trotzdem, und wenn man es wahrnimmt, kann man sich freuen (oder um mit Cage zu sprechen, "ist es ein Vergnügen").
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Cage-WERKSTATT der Staatsoper im Schiller Theater: Ausstatterin Corinna Gassauer, die RegisseurInnen Tilman Hecker, Sophia Simitzis, Sandra Leupold, Isabel Ostermann , Jürgen Flimm, Beate Baron, Reyna Bruns und der musikalische Leiter Günther Albers (v. l. n. r.) - Foto © Eike Walkenhorst
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Gestern war also Halbzeit von DIE MUSIK IST LOS - 100 JAHRE JOHN CAGE - - heute Abend habt ihr Premiere der Europeras 3&4. Da treten dann so Koryphäen wie René Pape oder Roman Trekl auf... Ist Cage Mode oder eine Art von Bringepflicht?
Also Mode ist Cage überhaupt nicht, auch wenn es anlässlich seines 100. Geburtstages natürlich verhältnismäßig viele Aufführungen seiner Stücke gibt. Ich glaube, er ist einfach unersetzlich, weil er die Musik und Klänge in einen neuen Zusammenhang bringt und dadurch beim Hörer/Betrachter, aber auch bei den Spielern/Sängern, einen ganz neuen Denkprozess über das, was wir Musik nennen, in Gang setzt. Es ist also auch keine Bringschuld, wenn Koryphäen wie Pape, Trekl oder Höhn [Carola Höhn, A. S.] da mitmachen. Erstens ist er ein moderner Klassiker, und zweitens sind die sängerischen Anforderungen bei dem Europeras 3&4 enorm, müssen also wirklich von super Opernsängern gemacht werden. Überhaupt war es ein Leichtes, unsre Ensemblemitglieder zu überzeugen, dass Cage-Singen oder Cage-Aufführen Spaß machen kann und zugleich dieselbe künstlerische Ernsthaftigkeit und Disziplin verlangt wie jedes andere Stück.
Auch du und dein Kollege Detlef Giese sind ja heute Abend mit dabei... Als Phonographen? Sag mal was dazu!
Die Europeras 3 sind für insgesammt 6 Sänger, 6 Plattenspieler-Spieler [sog. Phonographen, A. S.] und zwei Pianisten. Alle haben vorgefertigtes Material. Im Fall der Plattenspieler ging das folgendermaßen: Man musste vorher für jeden Spieler jeweils 50 Plattenaufnahmen von Opern zwische Mozart und Puccini aussuchen (also insgesamt 300). Dann berechnet ein Computerprogramm per Random (also per Zufallsverfahren) 1. die Reihenfolge der Platten aus, die an dem jeweiligen Abend drankommen und 2. die Zeitpunkte, an dem die Platte an- bzw. ausgestellt wird. Jeder Spieler hat aber zwei Plattenspieler zu bedienen, sodass das Ganze eine ziemlich sportive Angelegenheit ist. Die Dynamik ist auch von Cage jeweils angegeben, und man kann und sollte bei der Angelegenheit musikalisch sensibel reagieren. Das macht unheimlich Spaß, ist aber durch die vielen vom Computer vorgegebenen Regeln ein echter Konzentrationsmarathon.
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Jens Schroth in höchster Konzentration… - Foto © Eike Walkenhorst
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Klingt irre spannend... Was für Opern hattest du da ausgesucht? (Falls du es uns verraten willst.)
Naja, wir haben hier Glück, dass die Staatsoper ein ziemlich großes Plattenarchiv hat, aus dem wir aussuchen konnten. Ich hab z. B. Wildschütz, Zauberflöte und Hoffmanns Erzählungen gewählt und freu mich, wenn es drankommt... aber jeden Abend entscheidet der Computer aufs Neue, welche Platten drankommen und wann/wie laut sie gespielt werden. Gestern bei der Generalprobe musste ich ziemlich viel und ziemlich laut Rienzi spielen, vielleicht hab ich heut mehr Glück ...
Rienzi war ja auch von Wagner mal viel länger konzipiert, als sie ihn heutzutage hin und wieder spielen. Apropos Überlänge: Was darf und sollte man von Halberstadt (du weißt sofort, was ich hier meine!) halten? Ist doch irgendwie "Verarsche", oder? Ich für meinen Teil hab grundsätzlicher Weise nie etwas gegen "Verarsche"; davon abgesehen...
In Halberstadt nehmem sie die Angabe "as slow as possible" eben sehr ernst. Das ginge wahrscheinlich auch noch ein paar tausend Jährchen länger ;-) Ich finds aber toll, dass die da sowas machen. Obwohl ich selber noch nicht dort war, haben mir Leute erzählt (und zwar ohne jeden esoterischen Beiklang), dass es schon besonders ist, in diese Kirchenruine zu kommen, wo ein Musikstück (oder meinetwegen ein Klang) gemacht wird, das sich überhaupt nicht drum kümmert, wer da wann wie lange zuhört. Das meinte ich vorhin mit dem, dass sich die Vorstellungen, was Musik ist, durch ganz einfache Verfahren komplett drehen und ändern. Cage hat sinngemäß gesagt: 'Wenn der Begriff Musik Sie schockiert, müssen Sie es nicht so nennen.' Voilà, damit haben wir es in Halberstadt zu tun.
[Gemeint ist John Cages Organ2/ASLSP - siehe unter http://de.wikipedia.org/wiki/ORGAN%C2%B2/ASLSP]
Man sollte es zum Weltkulturerbe erklären - findest du nicht auch?
Auf alle Fälle!!!!!!!!!!!
Ihr habt dann auch noch heute Abend "Shaolin Qi Gong" auf dem Programm. Mit einem echten Spezialisten: Abt Shi Youngchuan - der, wie du vorhin schon gesagt hast, auch am Sonntagabend ein paar Leute von euch draußen auf der Wiese öffentlich trainierte... Ihr braucht schon gelegentlich Entspannungsübungen nach so viel Cage, nicht wahr? :-) :-)
Für uns ist es wunderbar (obwohl ich beim Kungfu am ersten Abend nach zehn Minuten schweißgebadet aufgegeben habe). Das Tolle ist aber, dass das Publikum jeden Alters auch mitmacht. Das ist übrigens kein Gag, sondern ist nochmal eine ganz praktische Annäherung an Cages Denken, das maßgeblich von buddhistischer Philosophie geprägt ist. Wir wollten nicht nur kluge Vorträge über fernöstliche Denkungsart machen, sondern eben dann gleich in medias res gehen. Man kann den Abt aber auch immer danach gern nach allen Dingen fragen, die man über den Buddhismus wissen will. Der ist sehr nett, also keine Angst... ;-)
Erklär mir kurz dieses I-Ging (habe ich auf dem Wikipedia-Eintrag über Cage gelesen)!
I Ging ist das älteste schriftlich überlieferte Orakel und kommt aus dem chinesichen Taoismus. Anhand von drei Münzen werden in 6 Würfen 2 Triagrame generiert, die wiederum zu einem Hexagram zusammengefügt werden. Durch verschiedene Verfahren wird dabei eine Zahl zwischen 1 und 64 ermittelt, die wiederum eine von 64 möglichen Antworten auf eine Frage ergibt, die der Beorakelte sich vorher gestellt hat und auf die er sich während des Münzwerfens konzentriert... Cage hat dieses I-Ging-Verfahren sehr häufig benutzt, um auf zufällige Zahlenreihen zu kommen, die wiederum dann die Struktur seiner Stücke bestimmen. (Er selber hat es aber auch als eine charmante Art von Computer bezeichnet: er war sehr froh, als es dann möglich war, mit Computern diese Zahlenreihen ohne das aufwendige Münzwerfen zu bekommen). Klingt kompliziert, aber meine Kollegin Katharina Winkler macht jeden Abend auch individuelle I-Ging-Orakel. Man kann sich's also selber mal anschauen.
Du kennst dich super aus - Respekt!!! Jetzt musst du mir noch dein Lieblingswerk von John Cage verraten (aber du darfst nur EINS nennen; das ist die Bedingung). Fiese Frage, was... :-D
Schwer zu sagen - im Moment, glaube ich, die Songbooks, kann sich aber auch ganz schnell wieder ändern... ;-)
Hast gemogelt - Songbooks sind ja auch "so viele" - trotzdem genehmigt.
Ja drum, von allem etwas.
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Proben für die Songbooks unter der Leitung von Isabel Ostermann - Foto © Eike Walkenhorst
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Seit sechs Jahren bist du an der Staatsoper, seit zwei Jahren ihr Chefdramaturg... Sag - ist es eigentlich in Berlin besser als es "früher mal" in Stuttgart war? (Wieder fiese Frage.)
Ich muss in 10 Minuten leider in eine Planungssitzung, wenn's noch was ganz Wichtiges gibt, wäre jetzt die Gelegenheit. Ansonsten war es mir ein außerordentlichstes Vergnügen... :-)
Antworte noch schnell aufs Obige!
"Eine sehr gute Frage. Ich möchte sie nicht durch eine Antwort verderben." (J. C.)
Superreaktion!! - Ich wünsch dir und den andern ToiToiToi für heute Abend!!!!! Danke für den schönen Chat!
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Jens Schroth / Andre Sokolowski - 10. Juli 2012 ID 6078
DIE MUSIK IST LOS - 100 JAHRE CAGE (Werkstatt der Staatsoper im Schiller Theater, 05.-15.07.2012, tägl. 18-24 h)
... Songbooks ... Pilzsuppe ... Bing ... Lectures ... Klavierstimmen ... Die Falle der Qualle ... Pulterücken ... Gemüseputzen ... Teekochen ... Cagebibliothek ... Straßenlärm ... Lippenstiftnachziehen ... 4:33 ... Soundcheck ... Radios ... Rückwärtslaufen ... I Ging ... Garderobe ... Ticketkaufen ... Europeras ... Farbe ... Einlassen ... Einsingen ... Uhrenvergleich ... Klok Klok Klok ... Schrauben ... Bleistiftspitzen ... Nachhausegehen ... Bismarckstraße ... Klaus Schreiber ... Halberstadt ... 639 Jahre ... Thoreau ... Solo mit Sofa ... Yoga ... Haarekämmen ... Anstellen ...
Mit Reinhild Hoffmann, Nicolas Isherwood, Klaus Schreiber, Günther Albers, Jennifer Riedel, Annika Schlicht, Friederike Harmsen, Hanna Dóra Sturludóttir, Lena Haselmann, Adriane Queiroz, Carola Höhn, Dominic Oelze, Ursula Weiler, Corinna Gassauer, Roman Trekel u. a.
http://www.staatsoperberlin.wordpress.com
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de
http://www.andre-sokolowski.de
In memoriam Jens Schroth (1973-2016)
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