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Totensonntag 2009

Doppelbesprechung

EIN DEUTSCHES REQUIEM

LEAR



Szene aus LEAR von Aribert Reimann, der an der Komischen Oper Berlin zum zweiten Mal jetzt läuft - Foto (C) Wolfgang Silveri


Einmal jährlich - sonntags vor Advent - ist eine ganz bestimmte Leuteschar mit Grabvasen und Gießkannen beschäftigt. Sie befleißigt sich des äußerlichen als wie innerlichen Angedenkens der vor Kurzem oder vor noch länger schon Dahingeblichenen. Die Toten lassen sich natürlich durch das aufgesetzt Symbolische in keinster Weise animieren; tot ist tot, und Friede ihrer Asche; letzten Endes ist es scheißegal, wann-wo-warum ihrer so voradventlich totensonntaghaft gedacht wird oder nicht. Die schöne Geste diente allenthalben der zur Inneneinkehr aufgelegten Seelen der lebendig Lebenden, ganz unabhängig davon, ob die jeweiligen Seelenträger "schuldig" oder "unschuldig" am Tod ihrer verblichnen Anverwandten oder Freunde (oder Feinde) waren oder sind. Der TOTENSONNTAG ist ein festtagsfreies Heuchelfest. Und auf dem Friedhof duftets immer schön nach Erde und verwelkten Blumen.

[Mein Freund J. rief an und sagte mir, er hätte Herzrasen gehabt, es wurde ihm auch schwarz vor Augen, und er setzte mit dem Spielen aus, und seine Pultkollegin fühlte ihm den Puls; dann aß er in der Pause ein Stück Kuchen und trank Kaffee, und es ging ihm scheinbar wieder besser; alles Das während der Endproben zu Mendelssohns ELIAS; in der Kirche soll es auch eiskalt gewesen sein, und draußen sind zur Zeit so an die 17 Grad, Ende November also... J. hatte dann noch gesagt, "ich musste plötzlich weinen, und ich dachte auch, es ist vielleicht das letzte Mal, dass ich jetzt spiele"; "nein!" befahl ich ihm; J. hat seit Wochen Stress, er arbeitet zu viel, doch nicht nur das; ich sagte ihm noch plattitüd, "nimm dich zurück und konzentriere dich aufs Wesentliche"; und er wolle jetzt verstärkt auf seine Atemtechnik achten... Todesangst.]

Wem graut es nicht vorm Tod?

Den Tod zu denken freilich ist schon außerordentlich vernünftig.

Todesängste, also "prinzpieller Art", sind immer nachvollziehbar; und bedeutete es letztlich nicht, also nicht auch, dass Todesangst vielleicht nur der hat, der gern lebt, also der keine Lust auf seinen Tod, also nicht jetzt (also nicht jetzt gleich unbedingt), verspürte oder wie auch immer...

Tode warn schon immer das, was uns tagein-tagaus am meisten irgendwie beschäftigte, wenn irgendhin oder wo irgendher so eine "Schwebe" zwischen Tod und Leben ist - alles so merkwürdige Denkdinge, die man so gar nicht nie und richtig für sich selber in die Reihe kriegte.

TOTENSONNTAGSLAUNEN.

* * *

Totensonntagslaunig kamen mir dann auch die beiden folgenden Geschehnisse zupasse, nacheinander sozusagen: Nachmittags Johannes Brahms' EIN DEUTSCHES REQUIEM (Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Dirigent: Marek Janowski) - abends Aribert Reimanns LEAR (Premiere an der Komischen Oper Berlin, Inszenierung: Hans Neuenfels, Dirigent: Carl St. Clair)...



So sah Brahms (1833-1897) als Zwanzigjähriger aus - nicht schlecht, oder??


Über den Brahms, der 64jährig jämmerlich an Leberkrebs verendete, las ich am Wochenende dieses Nachschlagwerkige hier: "Die Natur hatte Brahms mit allen schönen Gaben an Körper und Geist ausgestattet. Doch zeigte er in mancher Hinsicht seinen Mitmenschen, selbst seinen Freunden, ein sehr verschlossenes und zwiespältiges Wesen und verbarg seine wahre Meinung gern hinter beißender Ironie. Einer dauerhaften Bindung - sowohl was eine Eheschließung oder eine feste berufliche Stellung anbelangte - entzog er sich immer wieder..." Oder Dietrich Fischer-Dieskau (Münchner Uraufführungs-LEAR von 1978), der nach seiner großen Sangskarriere plötzlich Ambitionen auf das Bücherschreiben hatte, ließ in seinem umständlichen Brahms-Buch nachstehendem Urgedanken freien Lauf: "Man darf mit Fug behaupten, das Lebensgefühl des Johannes Brahms sei vornehmlich tragisch gewesen." Nolens volens komponierte Brahms wohl auch EIN DEUTSCHES REQUIEM, wie vermutet und gesagt... / Janowski hatte eine diesseitige Sicht. Der Rundfunkchor Berlin befolgte das vom sinnig Ungefähren auf das feste Erdreich aufgebaute (intellektuelle) Angebot mit "leise weinend" unhektischem und "über den Dingen stehendem" Gesang. Allein im sechsten Satz bekam die durchweg moderate und durchdachte Angelegenheit stiefelnden Schritt; und Tod-wo-ist-dein-Stachel hob sich fratzenhaft und marzialisch, wie als wollte das Gerippe mit der Sense ausholen zu einem Rund-um-Schlag im Saale, ab; das machte körperliche Angst, das ließ das Blut vorübergehend aufkochen...



Jens Larsen spielt den Graf von Gloster in dem neuen LEAR an der Komischen Oper Berlin - Foto (C) Wolfgang Silveri


Reimann hatte bereits vor über einem Vierteljahrhundert an gleicher Stelle - Komische Oper Berlin 1983 - frenetische Begeisterungsattacken über sich ergehen lassen können; ich erlebte die DDR-Erstaufführung seiner Oper LEAR vor allem als gesundheitsirritierende Erfahrung, denn mir wurde (bei der Szene mit der Augen-Ausstecherei) kotzübel, und mich "rettete" gerade mal so eine im Stockdunkelen vollzogne Tigerbalsamkur; ansonsten wäre ich wohl umgekippt... / Jetzt hat der gute Reimann wieder einen schönen und verdienten und berührenden Applaus bekommen; nach der LEAR-Premiere konnte er sich sichtlich nicht beruhigen, und so küsste und so herzte er fast alle Mitwirkenden dieser musikalisch mehr als aufwühlenden Mega-Produktion am Hause in der Behrenstraße. // LEAR an sich ist eine Erbschleichergeschichte mit fatalen Todesfolgen; zwei seiner Töchter kämpfen gegen ihren Vater und die (dritte) Schwester, die die lieblich Liebendere in realo ist; und also ist es auch ein Liebesstück - dies Alles zugespitzt (Libretto: Claus H. Henneberg nach William Shakespeare) rausgearbeitet und durch den Reimann komponiert zu haben, ist das eigentliche Durchsetzungsrezept, weswegen Reimanns LEAR zum zeitgenössischen Standardwerk in der Welt der Oper wurde/ist! /// Und Neuenfels, der sich vielleicht absichtlich nicht besonders viel an Bildern oder Bildabläufen einfalln ließ, hat eine Art von Kammerspiel in der geschlossensten Gesellschaft draus gemacht; sein Bühnenbildner Hartung stellte hierfür einen keimfreien, also sterilen Raum als Plattform zur Verfügung, und der funktionierte ziemlich gut. //// Tómas Tómasson (König Lear), Jens Larsen (Graf von Gloster), Martin Wölfel (Edgar) oder Irmgard Vilsmaier (als Goneril) seien - und stellvertretend für die anderen herausragenden Sängerleistungen - als Exzessivstleistende ausgestellt... ///// LEAR ist zurecht und zeitlos Repertoire.

Geschehenes am TOTENSONNTAG '09 - das wars erst mal soweit.


Andre Sokolowski - 25. November 2009
ID 4465
www.andre-sokolowski.de

EIN DEUTSCHES REQUIEM von Johannes Brahms (Philharmonie Berlin, 22.11.09)
Camilla Tilling, Sopran
Detlef Roth, Bass
Rundfunkchor Berlin
(Choreinsudierung: Simon Halsey)
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Dirigent: Marek Janowski
http://www.rsb-online.de


LEAR von Aribert Reimann (Komische Oper Berlin, 22.11.09)
Musikalische Leitung: Carl St. Clair
Inszenierung: Hans Neuenfels
Bühnenbild: Hansjörg Hartung
Kostüme: Elina Schnizler
Besetzung: Tómas Tómasson (König Lear), Tilmann Rönnebeck (König von Frankeich), Hans Gröning (Herzog von Albany), Christoph Späth (Herzog von Cornwall), Thomas Ebenstein (Graf von Kent), Jens Larsen (Graf von Gloster), Martin Wölfel (Edgar, Sohn Glosters), John Daszak (Edmund, Bastard Glosters), Irmgard Vilsmaier (Goneril), Erika Roos (Regan), Caroline Melzer (Cordelia), Elisabeth Trissenaar (Narr) Richard Neugebauer (Bedienter) und Andreas Jähnert (Ritter)
Chor der Komischen Oper Berlin
(Choreinstudierung: Robert Heimann)
Orchester der Komischen Oper Berlin

Weitere Infos siehe auch: http://www.komische-oper-berlin.de



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