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Uraufführungen


26. April 2013, musica viva des Bayerischen Rundfunks

HELLE UND DÜSTERE EBENEN, VERGANGENHEIT UND GEGENWART

Neue Kompositionen von Salvatore Sciarrino und Rebecca Saunders kontrastierend zu einem bekannten Orchesterwerk von Helmut Lachenmann


musica viva des Bayerischen Rundfunks (Quelle: br.de)



Salvatore Sciarrino - fast übernatürlich Traumhaftes

Salvatore Sciarrino
ist ein Komponist, der sich exakt entscheidet, wie er seine poetische Musiksprache für Orchester instrumentiert. Er ist sich vor allem bewusst, dass er den Orchesterapparat nicht komplett ausschöpfen muss. Manches gezielt wegzulassen spielt bei ihm eine entscheidende Rolle, auch für die gesamte Klangfarbe eines Stücks. Eine Vorliebe hat der Italiener grundsätzlich für Flageoletttöne, diese Halbwelt der Töne, die von manchen als undefinierbare Schatten bezeichnet werden. Es gibt von Sciarrino den Satz: "Ich liebe das Flageolett, weil ich selbst ein Flageolett bin." Wenn in kaum definierbaren Konturen mehr oder weniger zufällig die Tonhöhe getroffen wird, oder sie dem Interpreten wegbrechen könnte, darin lässt Sciarrino gern Spannung entstehen. Eine Geige kann für ihn wie ein übernatürliches, traumhaftes Instrument klingen in einem Reich der Melancholie, das lang Vergangenes mit einbezieht. Während Sciarrino aber gleichzeitig neue, eigene Formen findet und verwendet.


Verhüllter Tag beim schwarzen See

Der Solo-Sologeige wurden bei der Uraufführung von Giorno velato presso il lago nero (Verhüllter Tag beim schwarzen See) sozusagen Sologeigen zur Seite gestellt, und ungewöhnliche Instrumente wie eine Lastra und Gran Cassa waren untypisch für ein Violinkonzert in das Orchester eingebaut. Giorno velato presso il lago nero zeigte sich als ein Stück, bei dem Zustände wie Unruhe und Gelassenheit dynamisch konkurrieren und Stillstand und Bewegung merkwürdig kontrastieren. Sciarrino spricht bezüglich der Arbeit an dieser Musik von immer wieder zerbrechender, zersplitternder Konzentration und dem Komplettieren der Komposition schließlich vergangenes Jahr in München. Sciarrino, den beim Komponieren auch als melancholisches Moment ein Exprimentieren mit der herabsteigenden Bewegung interessiert, hatte natürlich bei der Uraufführung von Giorno velato presso il lago nero anlässilich der Musica Viva eine durchaus positive Dynamik, die zu mancher dem Stück immanenten Stimmungen und Bestrebungen produktiv in Spannung steht. Wie Glück zu Unglück. Fragt sich jemand, wen alles es bestürzt, wenn ein Glückliches fällt? Sciarrino zitiert Rainer Maria Rilke mit den Worten: "Und wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, / wenn ein Glückliches fällt." Als inspirierend für die Arbeit an Giorno velato presso il lago nero erwähnt Sciarrino die Arbeitsphase "Girl by a black lake" des Malers Jan Preisler, in dem gegensätzlich mattes Schwarz mit Kreideweiß eingesetzt wird.


Dunkle und helle Ebenen

Was realisierbar ist, wenn man keine ergänzenden Informationen vom Komponisten und den Interpreten zum Werk kennt, sind erst einmal musikalisch zwei Hauptebenen, eine düstere, eine hellere, beide eher verhalten bis mittellaut. Und umfassender Orchesterklang setzt nur die einen oder anderen extrem lauten Akzente in die beiden Bereiche, die immer wieder wie merkwürdige Dehnungen wirken, die in Spannung zueinander stehen. Eigentlich dachte ich dabei zuerst eher an Pastell- oder Grautöne. Und erst durch ergänzende Lektüre machte ich mir nach der Aufführung mit etwas Distanz den stärkeren Kontrast bewusst. Giorno velato presso il lago nero ist ein eher schwierig rezipierbares Stück, das selbst Ohren, die Neue Musik gewohnt sind, irritieren kann und nicht sofort einordbar und bewertbar ist. Die Violinistin Carolin Widmann hatte den Part der Sologeigerin und konnte mit den kreierten Klangbildern einen Wunschtraum real werden lassen. Salvatore Sciarrino spricht von "Musik, die zu einer anderen Form des Hörens führe, zu einer umfassenden seelischen Einsicht, sowohl in die Realität als auch die eigene Persönlichkeit".


Rebecca Saunders - melancholisches Akkordeon-Klangbruchstück

Der Komposition von Sciarrino folgte ein neues Werk von Rebecca Saunders in Uraufführung: ...of waters making moan für Akkordeon solo. Teodoro Anzellotti ging souverän in dieses "Klangbruchstück", um das "Wesentliche eines Farbsplitters innerhalb einer begrenzten und reduzierten Palette von Klangfarben aufspüren" zu können - soll ergänzenden Informationen zufolge jederzeit weitergegeben werden. Die von Saunders genannte Lyrik "...Sad as the sea bird is when, going / Forth alone, /..." aus einem Gedicht von James Joyce von 1907 kommt der Akkordenaufführung von Anzellotti nahe, und Wortreiches braucht es nicht unbedingt, um das gekonnt detailreiche Spiel des Akkordeonisten wertzuschätzen. Sciarrinos Giorno velato presso il lago nero vertrug nachfolgend vermutlich auch nur ein Solostück dieser Art.


Helmut Lachenmann - aktuelle Situationen von Ausklang

Der fragilen Stimmung des ersten Teils des Konzertabends wurde dramaturgisch ganz entschieden das um Jahrzehnte ältere Stück Ausklang, 1986 erstmals aufgeführt, von Helmut Lachenmann entgegengesetzt, das mit umfangreicher Orchesterbesetzung und speziell dem Wirken des Pianisten Pierre-Laurent Aimard arbeitete und wie den Geist eines anderen Jahrzehnts atmete, das noch hereinwirkte, aber aktuell interpretiert. Während ich Sciarrinos und Saunders Werk zurückgenommen seitlich aus dem Hintergrund im Parkett beobachtete, ließ ich das von Lachenmann in der Mitte oben im Rang sitzend mit ganzem Blick auf das Orchester auf mich wirken. Fast hatte ich erwogen dem ersten Konzertteil nach der Pause Stille folgen zu lassen. Draußen stand eine dunkle Wolkenwand am Rande eines klaren Himmels einer vergangenen blauen Stunde, auf dem Parkrasen lungerten noch idyllisch Picknicker, und aus dem Foyer drangen laute Gespräche - ich entschied mich dann doch für's Bleiben und konnte den Lachenmann-Part des Abends produktiv rezipierend integrieren. "Wir haben permanent Klänge als magische Mittel", konstatiert Lachenmann theoretisierend und stellt aber gleichzeitig das Beobachten fest, beim Komponisten und beim Hörer: "Hören wird zu einer Art beobachten."

"Die Musik durchläuft so einen Parcours von Situationen", kommentiert Lachenmann Ausklang. Um Klarheit über die Gegenwart haben zu können, braucht man immer wieder gezielt auch Kenntnis der Vergangenheit. Wenngleich ich Ausklang nicht nahe an mich herankommen ließ.


An der Grenze des Hörens

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Dirigat von Jonathan Nott wagte es, interpretierend Nuancen zu setzen auf nicht unbedingt ganz sicherem Terrain der beiden Orchesterstücke von Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann. Joachim Nott sprach bezüglich der Stückbezeichnung von Sciarrino davon, eine Idee von Visionen von Klangfarben zu haben (...) an der Grenze des Hörens.





Salvatore Sciarrino - Foto (C) Astrid Ackermann


Tina Karolina Stauner - 29. April 2013
ID 6715
MUSICA VIVA (München, Herkulessaal der Residenz / 26.04.2013)
Salvatore Sciarrino: Giorno velato presso il lago nero für Violine und Orchester (UA)
Rebecca Saunders: ...of waters making moan - Solo für Akkordeon (UA)
Helmut Lachenmann: Ausklang - Musik für Klavier mit Orchester
Carolin Widmann, Violine
Teodoro Anzellotti, Akkordeon
Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Dirigent: Jonathan Nott


Weitere Infos siehe auch: http://www.br.de/radio/br-klassik/orchester-chor/musica-viva/index.html


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