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RUHRTRIENNALE | 14. 8. - 26. 9. 2015

Menschliche Schattenseiten von deutlicher Länge

ACCATTONE (UA) in der Zeche Lohberg Dinslaken


Bewertung:    



Seit 2002 zeigt die RUHRTRIENNALE alljährlich im Sommer Kultur in Industriedenkmälern an Ruhr und Emscher. Der Niederländer Johan Simons, zuletzt Leiter der Münchner Kammerspiele, eröffnet seine Intendanz in der Kohlenmischanlage der Zeche Lohberg in Dinslaken. Im Jahr 2006 wurde hier der Bergbau eingestellt. Seit der Zechenschließung bezieht in Dinslaken-Lohberg jeder Fünfte Hartz IV, es fehlt an Perspektiven und Arbeit. Mehr als zwei Dutzend Jugendliche sind bis zum Jahr 2014 aus Dinslaken nach Syrien gereist, um sich der Terrororganisation „Islamischer Staat“ anzuschließen – der Stadtteil ist heute für seine radikalen Salafisten berühmt-berüchtigt.

Arbeitslosigkeit und Gewalt sind auch die Themen von Pier Paolo Pasolinis Filmdebüt Accattone (1961), das in einem heruntergekommenen Vorort von Rom spielt. Accattone (Italienisch für "Bettler") hat keine Arbeit, möchte jedoch auch nicht arbeiten. Er verlässt seine Frau und seine Tochter und schickt seine Freundin Maddalena auf den Strich, damit sie für ihn anschafft. Als letztere von einer konkurrierenden Bande zusammengeschlagen wird, verliert auch Accattone seine Einkünfte und verzweifelt zusehends.



Kulturinteressierte an der geschlossenen Zeche in Dinslaken-Lohberg | Foto (C) Ansgar Skoda


Simons Inszenierung folgt inhaltlich Pasolinis Film, obwohl das Erzählte oft nicht gezeigt wird. Denn es gibt kaum Dialogszenen, und Szenenanweisungen werden von den Darstellern als Prosapassagen gesprochen. Wenn Maddalena zusammengeschlagen wird, sehen wir so Sandra Hüller und Benny Claessens in einer Art choreographischen Kontaktimprovisation, die keinerlei Gewalt ausstrahlt. Pasolini unterlegte Szenen mit dem Schlusschoral der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. In Simons Adaptation der Vorlage steht Bachs Musik vor allem für eine Erlösung von der erzählten Brutalität. Vokalsolisten, Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent untermalen unter der Leitung von Christoph Siebert mit stimmungsvollen Bach-Chorälen wie "Komm o Tod, du Schlafes Bruder" die Geschichte.

Seit 1961 hat sich viel verändert. Pasolini rekrutierte seine Darsteller noch aus der Bevölkerung eines heruntergekommen Vororts Roms. Das Proletariat von damals gibt es heute nicht mehr. Was ist aus dem Subproletariat geworden? Bereits bei der Anfahrt mit dem Shuttle-Bus fällt der Blick auf den riesigen Förderturm, der seinen Schatten auf die gigantische Kohlenmischhalle wirft. Die linke Straßenseite mit den Einwohnern wird so beinahe übersehen. Während die Industriearchitektur Dinslakens beeindruckt, hatten die ärmlichen Stadtviertel in Pasolini ersten Spielfilm nichts Beeindruckendes. Wegen der Ästhetik der Schwerindustriekulisse wurde Dinslaken vermutlich als Spielstätte für die RUHRTRIENNALE ausgewählt. Als Zuschauer sollte man nicht den Fehler machen, dies als Fortführung von Pasolinis Idee zu sehen – auch das Festivalmotto "Seid umschlungen" wird den Menschen in Lohberg nach Ende der RUHRTRIENNALE keine sinnstiftende Arbeit vermitteln.



Sonne fällt in die 200 Meter lange Halle von 1975 | Foto (C) Ansgar Skoda


Während die Wiedergabe der Bach-Kompositionen berührt, hat die Inszenierung – eine Koproduktion mit dem belgischen Nationaltheater Gent – deutliche Längen, und es fällt schwer sich emotional in die Charaktere einzufühlen. Die Akteure bewegen sich oft in Zeitlupe oder liegen am Boden - es eröffnet sich vor allem eine lähmende Leere. Steven Scharf wirkt in der Titelrolle blass und unscheinbar. Neben Star-Schauspielerin Sandra Hüller als Maddalena überzeugt so vor allem auch Elsie de Brauw in der Rolle einer emotional abgestumpften Prostituierten. Erwähnenswert sei auch der Belgier Benny Claessens, der als „das Gesetz“ mit einigen komischen Auftritten zusätzlich für Verwirrung sorgt. Ähnlich wie Pasolini, der seinem Film über ein kleinkriminelles Milieu etwa durch Musikeinspieler eine biblische Aura verlieh und die Titelfigur wie Jesus dem Tod entgegengehen ließ, verzichtet auch Simons Inszenierung auf eine nachvollziehbare Zuordnung.
 
In Erinnerung bleiben so letztlich die, in der Abendsonne quer durch die leere Halle ragenden Schatten der Besucher beim Eintreten in die 200 Meter lange Aufführungsstätte - und eine besonders große Schnake berührte, die während der Bach-Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen in Accattones Grab – ein Loch im steinigen Boden der Bühne - flog.

Ansgar Skoda - 26. August 2015
ID 8829
ACCATTONE (Zeche Lohberg Dinslaken, 22.08.2015)
Musikalische Leitung: Christoph Siebert
Regie: Johan Simons
Bühne: Muriel Gerstner
Kostüm: Anja Rabes
Licht: Wolfgang Göbbel
Soundscapes: Steven Prengels
Sounddesign: Will-Jan Pielage
Dramaturgie und Bühnenfassung: Koen Tachelet
Dramaturgie: Tobias Staab
Musikdramaturgie: Jan Vandenhouwe
Besetzung:
Accattone ... Steven Scharf
Maddalena … Sandra Hüller
Amore … Elsie de Brauw
Das Gesetz … Benny Claessens
Stella … Anna Drexler
Pio … Mandela Wee Wee
Balilla … Steven van Watermeulen
Cartagine … Jeff Wilbusch
Renato … Lukas von der Lühe
Nannina/Aszensa … Laura Mentink
Io … Pien Westendorp
Dorothee Mields, Sopran
Alex Potter, Countertenor
Thomas Hobbs, Tenor
Peter Kooij, Bass
Collegium Vocale Gent
Uraufführung war am 14. August 2015
RUHRTRIENNALE


Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de/


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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