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Bayreuther Festspiele 2017

Der Foltz will

mit dem

Stolzing

schlafen


Barrie Kosky inszenierte
DIE MEISTERSINGER
VON NÜRNBERG


Johannes Martin Kränzle als Sixtus Beckmesser in Die Meistersinger von Nürnberg | Foto (C) Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Bewertung:    



Jede Menge Neues auf dem Grünen Hügel:

Nicht nur die aus Sand- und Backstein bestehende Fassade, sondern auch die Seitenwände und die Rückseite vom Festspielhaus sind fertig saniert; sieht toll aus - vor allem, wenn es von den tiefen Strahlen der Abendsonne "angeleckt" wird (kann man meistens, falls es nicht gerade regnet, in den zweiten Pausen der ab 16 Uhr sich hinziehenden Aufführungen nebenher erhaschen).

Die hausinterne Website macht einen hippig-angepassten Eindruck; ans Navigieren muss man sich (als nicht mehr ganz so jugendlicher Netz-Nutzer) halt nach und nach gewöhnen; aber wird schon. - Auch getwittert wird nunmehr; wer hätte das vor Jahren je für möglich gehalten. - - Und dass Wagneropern live im Kino laufen, werden wagnerversessene Filmfans ohne jede Frage zu nutzen verstehen; und auf dem Bezahl-TV-Kanal von Sky ist auch dann jede Menge Wagner live zu sehen.

[ Ebenfalls in dem Bereich des "Neuen" zu vermelden: Die für die Beköstigung des Festspielpublikums zuständige Hotel- und Gastronomiekette hat ihre Nahrungsmittelpreise spürbar angehoben - ein Stück lecker Mandarine-Käse-Kuchen, beispielsweise, kostet 7 Euro, auch ein halbes Literfläschlein Selters (Selters!) - - sagt mal, habt ihr sie noch alle? ]

*

In dem von der Festspielchefin initiierten Diskurs Bayreuth wird fingerzeigig auf den "noch immer umstrittenen und keineswegs abgegoltenen Themenkomplex 'Wagners Werk und der Nationalsozialismus' und dessen vielschichtigen Konsequenzen, etwa auch der Legende einer angeblichen 'Stunde Null'" verwiesen; es handelt sich hierbei um ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Gesprächen und Konzerten. Um es allerdings nicht allzu sehr symposisch (wissenschaftlich, innerzirklich) ausarten zu lassen, wird - wie nunmehr jedes Jahr - die in 2012 erstmals gezeigte umfangreiche Foto-Text-Ausstellung Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876-1945 im Richard-Wagner-Park (in bezeichnender Nähe zur Breker-Büste) unübersehbar präsentiert. Recht so! Es schärft anhaltend ein Bewusstsein dafür, wessen menschenverachtender Geist an Ort und Stelle hier gehaust hatte, was wohl ein Grund dafür gewesen war, dass Hitler & Konsorten sich hier oben einfach pudelwohl gefühlt haben mussten...

Auch um dieses Thema [s.o.] wollten oder sollten sich Die Meistersinger von Nürnberg - inszeniert von Barrie Kosky - diesmal drehen:



Die Meistersinger von Nürnberg beim gemütlichen Zusammensein im trautesten Familienkreise bei den Wagners im Haus Wahnfried. | Foto (C) Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath


Der singuläre Superstar der Aufführung: Johannes Martin Kränzle!

Schon im Vorspiel führt er Hermann Levi (1839-1900), den deutschen Orchesterdirigenten und Komponisten jüdischer Abstammung, vor. Der ist gerade bei den Wagners im Haus Wahnfried zu Besuch; sein Gastgeber reicht ihm einen Klavierauszug der Meistersinger und will von ihm sachkundig bestätigt kriegen, wie genial sein neues Opus ist; Levi kontert professionell und höflich - das war sicher taktisch klug so, denn sonst hätte ihn womöglich Wagner nicht die Uraufführung seines Parsifal in 1882 angetragen, und obwohl ja Levi Jude war und Wagner nun mal Juden, insbesondere assimilierte Juden, hasste wie die Pest... Die dramaturgische Brücke zu Sixtus Beckmesser, der nach der Kosky'schen Figuren-Sicht freilich "kein Jude" ist, wäre somit geschlagen, und der Regisseur (selbst jüdischer Abstammung) erklärt es so:


"Er ist eine Frankenstein-Kreatur, zusammengeflickt aus allem, was Wagner hasste: Franzosen, Italiener, Kritiker, Juden. Was immer Wagners Abscheu auf sich zog, findet sich in Beckmesser wieder. Seine Haut mag die eines Stadtschreibers aus dem 16. Jahrhundert sein, aber seine Seele und sein Charakter sind mariniert in jedem nur denkbaren antisemitischen Vorurteil, das aus den im mittelalterlichen Europa kursierenden Blutanklagen gegen die Juden hervorgegangen ist: Er ist ein Dieb, er ist gierig, er ist unfähig zu lieben, unfähig, wahre Kunst zu verstehen, er raubt deutsche Frauen, er stiehlt deutsche Kultur, er stiehlt deutsche Musik. (...) Und für dieses Verbrechen, das 'Verbrechen gegen die Kultur', muss Beckmesser aus Nürnberg vertrieben werden." (Quelle: Programmheft)


Die Prügel-Fuge aus dem 2. Akt wird folgerichtig zum Pogrom. Beckmesser muss als antisemitische Karrikatur herhalten und versinkt zu guter Letzt unter einer gigantisch-großen Judenfratze, die zuerst zum überdimensionalen Popanz aufgeblasen und schlussendlich, wegen des wiederum abgelass'nen Naziodems, ganz und gar in sich zusammenschlappt und von ihr lediglich dann noch die Kippa-Oberseite mit dem Davidstern zu sehen ist - ein arg bedrückender und sicher unvergesslich bleibender Minutenschocker; hochgrandios gemacht!



Aus dem Schlussbild des 2. Akts von Die Meistersinger von Nürnberg in der Inszenierung Barrie Koskys | Foto (C) Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath


* *

Kosky, dieses hyperaktive und mit allen Wassern gewaschene Theater-Tier, hat eine Gabe, die (wahrscheinlich alle seine) Kolleginnen und Kollegen nicht in dem Maß aufzubringen und/oder zu demonstrieren in der Lage sind wie er: Er mag und liebt die Menschen, die er augenblicklich "führt", er teilt mit ihnen seinen übersprudelnden Humor, er wirkt - trotz dass er einer der belesensten und also (nicht nur deshalb) intelektuellsten Opernregisseure unsrer Tage ist - schlicht, einfach und ergreifend: LEICHT. Deswegen (und nicht nur deswegen) kann er auch mit Chor und Chören.

Ergo konnte's gar nicht anders sein, dass ihm die "Massen-Auftritte" mit dem von Eberhard Friedrich musikalisch einstudierten Festspielchor szenisch aufs Wunderbarvorzüglichste gelangen! Diese überbordende Spiellust- und -ausgelassenheit des singenden und darstellenden (!) Personals haben einen so derart stimulierend-ansteckenden Sog - man würde, wenn man könnte, auf die Bühne springen wollen, um dort einfach mitzumachen.

All das durch und durch Bejahende und Proaktive "rechnete" sich selbstverständlich auch auf all die Gruppen- und Ensemble- oder Dreier-, Zweier- resp. Soloszenen (Sachs' zwei Monologe und die sog. Schlussansprache; wie das Alles Bariton Michael Volle während seiner stundenlangen Zwangsverweildauer auf offner Bühne [die Partie ist übrigens die allerlängste überhaupt, die einem Heldenbariton, sofern er ausreichendes Durchhaltevermögen hat, zuteil würde] dann tapfer durchgestanden hat: Respekt, Respekt!!) herunter.

Auch zig Sonder- oder sonderliche Zusatz-Einfälle passierten, manchmal wie der Blitz aus heiterm Himmel:

Timo Riihonen (als Hans Foltz) zum Beispiel: Der gibt sich, bei all den Abgesängen nach der Singschule im 1. Akt, ganz obsessiv als größter Fan Klaus Florian Vogts (als Walther von Stolzing) aus; er bedrängt ihn schier mit körperlicher Vehemenz, er kann vor lauter inflationierender Verzücktheit kaum noch an sich halten... wie als wenn er ihm, den Slip vor Wollust zuschleudernd, entgegenhecheln wollte: 'Du! du du!! du du du!!! bitte! bitte bitte!! bitte bitte bitte!!! - schlaf' mit mir!!!!!' Auch das also einer von diesen koskytypischen Versatzstückkrachern!

Und dann erst die Ausstattung an sich: phänomenal!!

Rebecca Ringst bediente sich zum Einen des großen Musiksalons der Villa Wahnfried, den sie im 1. Akt als häuslich-biederen Rahmen in einen Guckkasten, der dann (am Aktschluss) nach hinten weggerollt wird, zwängt. Und zum Anderen des Schwurgerichtssaales 600, wo nach Kriegsschluss 1945 die von den Alliierten geführten Nürnberger Prozesse abgehalten wurden - hier lässt sie sowohl den 2. (mit zunächst viel aufgelegtem Picknickrasen) und zugleich den 3. Akt (mit Schusterstube, Festwiese) stattfinden. Und die wie aus einem Dürerbild gefall'nen Zunftkostüme von Klaus Bruns sind von einer farb- und materialrauschigen Intensität, dass einem schier die Augen davon übergehen...



Festwiese aus Die Meistersinger von Nürnberg in der Regie von Barrie Kosky | Foto (C) Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath


* * *

Philippe Jordans Meistersinger-Auffassung ist der von Kosky ziemlich nah und manchmal gar konkongruent, obgleich ihm schon das Festspielorchester (bei der Prügelfuge oder auch der Festwiese) davonzueilen droht.

Daniel Behle muss als freundlichste Entdeckung der 2017er Saison in Bayreuth gelten - ja, sein David klingt bestürzend schön, und spielen kann er selbstverständlich auch!

Veit Pogner ist mit Günther Groisböck ideal besetzt. Er (neben Kränzle, Volle, Vogt) besticht zudem mit einer Textverständlichkeit, die ihresgleichen sucht.

Bei Anne Schwanewilms (als Evchen) scheiden sich die Geister; sie ist eigentlich als Hochdramatische im Strauss- und Wagnerfach bekannt als wie beliebt. Doch hat man sich mit dieser Stück-im-Stück-Verwebung Koskys (Sachs, Walther und David sind für ihn dreidimensionierter Richard Wagner; Pogner steht für Liszt, und Eva sollte dessen Tochter Cosima sprich Richard Wagners Ur- und Erstfrau sein) erst einmal angefreundet, passt die Stimmenwucht der Schwanewilms zu Eva Cosima Liszt-Wagner konsequenter Weise eigentlich doch wieder gut.

Altistin Wiebke Lehmkuhl tut (als Magdalene) ihren Part aus seiner Nebenrollennische nachhaltig herauskristallisieren.

Triumphal in jeder Hinsicht.


Andre Sokolowski - 3. August 2017
ID 10173
DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG (Bayreuther Festspiele, 31.07.2017)
Musikalische Leitung: Philippe Jordan
Regie: Barrie Kosky
Bühne: Rebecca Ringst
Kostüme: Klaus Bruns
Chorleitung: Eberhard Friedrich
Dramaturgie: Ulrich Lenz
Licht: Franck Evin
Besetzung:
Hans Sachs ... Michael Volle
Veit Pogner ... Günther Groissböck
Kunz Vogelgesang ... Tansel Akzeybek
Konrad Nachtigal ... Armin Kolarczyk
Sixtus Beckmesser ... Johannes Martin Kränzle
Fritz Kothner ... Daniel Schmutzhard
Balthasar Zorn ... Paul Kaufmann
Ulrich Eisslinger ... Christopher Kaplan
Augustin Moser ... Stefan Heibach
Hermann Ortel ... Raimund Nolte
Hans Schwarz ... Andreas Hörl
Hans Foltz ... Timo Riihonen
Walther von Stolzing ... Klaus Florian Vogt
David ... Daniel Behle
Eva ... Anne Schwanewilms
Magdalene ... Wiebke Lehmkuhl
Ein Nachtwächter ... Karl-Heinz Lehner
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Premiere war am 25. Juli 2017.
Weitere Termine: 07., 15., 19., 27.08.2017


Weitere Infos siehe auch: http://www.bayreuther-festspiele.de


Post an Andre Sokolowski

http://www.andre-sokolowski.de

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