Nach 100 Metern
fängt der Wald
an...
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Silvia Schiavoni und Giancarlo Schiffani (jeweils links und rechts vom Sprecher) erzählen, wie dieses Projekt entstand - Foto (C) Christa Blenk
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Bewertung:
In der Via Asiago in Prati befindet sich das RAI-Radiostudio. Asiago ist aber vor allem ein Ort im Veneto, der im Ersten Weltkrieg dem Boden gleich gemacht wurde. Die sog. Dolomitenfront verlief mitten durch sieben Gemeinden, deren Bewohner ausgesiedelt wurden. In der Po-Ebene, ihrer neuen Heimat, war es ihnen verboten, ihre Muttersprache (eine Art Deutsch) zu sprechen. Die meisten kehrten nach dem Krieg nicht mehr zurück, und so verkümmerte diese Sprache. Der Schriftsteller Mario Rigoni Stern, der 1921 in Asiago geboren wurde und 2008 auch dort verstarb, hat als einer der Wenigen in seinen literarischen Werken vereinzelte Wörter oder Fragmente jener verloren gegangenen Mundart verarbeitet.
2008 hatten Silvia Schiavoni und Giancarlo Schiaffini - im Gedenken an Asiago, Rigoni Stern und den Ersten Weltkrieg - das Werk A cento metri comincia il bosco: guerra memoria natura (dt.: In hundert Metern beginnt der Wald - Krieg Erinnerung Natur) konzipiert. Sie machten es umwerfend-kraftvoll und gleichsam doch sensibel. Es ist eine Fusion von Blechorchester mit Cello und Percussion, Sing- und Sprechgesang und Video, ein "Schauspiel mit Bildern" (wie sie es selber nennen).
Asiago ist eine der sieben Gemeinden in der Zimbrisch, wo eine traditionelle oberdeutsche Sprache, eine Variante des Bairischen, gesprochen wurde. Noch bis ins 18. Jahrhundert war es Kirchen- und Amtssprache. Heute sprechen es höchstens noch 1.000 Personen - und das nur in dem Dorf Lusern.
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Palle Odar Spete de Leute Allesamont Sterben – Sterben – Sterben - Sterben
Während also im Hintergrund verheerende Bilder vorbeilaufen, Archivaufnahmen aus der Zeit, die Schützengräben, Zeitungsausschnitte, die den Krieg ankündigen, das Futuristische Manifest, Giacomo Balla und Boccioni, Otto Dix, dramatische Holzschnitte von Verletzten, Gebirgsjäger, Triest und das ewige Thema Mitteleuropa ansprechen - manchmal unterbrochen von ruhenden und friedlichen Naturaufnahmen, dann wieder Schneelandschaften, in denen die marschierenden Soldaten schwarze Spuren hinterlassen, überfüllte Züge, winkende oder weinende Mütter - "geschehen" all diese Aktionen und Zustände musikalisch und stimmlich auf Bühne unter Leitung von Giancarlo Schiaffini und dem Orchester Phantabrass.
„Als Mutter taugt man nur noch zum Weinen“ lamentierte Silvia Schiavoni. Sie hat u.a. vereinzelte Texte von Mario Rigoni Stern, Ugo Betti, Gabriele D'Annunzio, Robert Musil, Giovanni Papini für ihren Schönberg'schen Sprechgesang angepasst, wiederum abgehöst von einen Brecht-Lied und lautmalerischen Geräuschen, bis sie fast weinte und anklagend kommentierte. Normalerweise hätten für all das mindestens drei Sängerinnen auf der Bühne stehen müssen. Temperamentvoll und abwechslungsreich durchspringt sie mühelos die Oktaven. Und als die Musik von Schiaffini plötzlich zu einem Trauermarsch in New Orleans wird, folgt sie ihm auch hier mühelos. Unvermittelt dreht er sich um und greift zur Posaune, um die im Hintergrund sterbenden Soldaten mit einem berührenden Lamento zu begleiten. Kampf und Tod, Hoffnung und Resignation lösen sich ab. „Soldaten marschieren durch die Stadt“ und Silvia Schiavoni schafft es sogar, mit ihrer alles könnenden Stimme mit zu marschieren.
Plötzlich wieder ein Wechsel und ich meine eine kurze Hommage an Verdi gehört zu haben, die dann zur österreichischen Volksmusik wird.
„La casa, la rifaremmo.“ (dt.: Wir bauen das Haus wieder auf).
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Nach dem Konzert im RAI-Radiostudio - Foto (C) Christa Blenk
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Wir hatten das große Glück, live bei dem im RadioRai3-Studio und via Streamer übertragenenm Konzert dabei gewesen zu sein.
Videoloch Asiago hat die Bilderwelt im Hintergrund zusammengestellt. Es musizierten: Luca Calabrese, Flavio Davanzo, Alberto Mandarini, Martin Mayes, Lauro Rossi, Sebi Tramontana, Massimo Zanotti, Beppo Caruso an den diversen Blechinstrumenten, Giovanni Maier am Cello und Luca Colussi, Percussion.
Der italienische Komponist und Musiker Giancarlo Schiaffini (geb. 1942) stand am Pult. Er ist auch als Posaunist des Modern Kreative Jazz und der Neuen Musik sehr bekannt und gehört schon seit 40 Jahren zur führenden Avantgarde der zeitgenössischen Musik in Italien. Schiaffini ist eigentlich Physiker und begann seine Musikkarriere als Autodidakt in einer Fee Jazz Gruppe. 1970 nahm er an den Darmstädter Ferienkursen teil und belegte dort Kurse bei Stockhausen und Ligeti. Danach gründete er die experimentelle Kammermusikgruppe Nuove Forme Sonore und die Gruppe Romano di Ottone, die außer zeitgenössischer Musik auch Renaissance-Musik machten. Ein Studium der elektronischen Musik folgte, 1983 trat er der Nouva Consonanza bei und fing an, sich für Neue Improvisationsmusik zu begeistern. Luciano Berio und Luigi Nono gehören u.a. zu seinem Repertoire, und mit ihnen arbeitete er auch eng zusammen. Im Jahre 2000 war er Composer in Residente beim International Composers & Improvisers Forum in München.
Ja und dann: Silvia Schiavoni - sie ist der Star in der römischen zeitgenössischen und elektronischen Musikszene und hat uns zum ersten Mal beim ROMANEUROPA FESTIVAL mit einer Performance zu John Cage-Musik beeindruckt. Hier kam sie durch aktive Mitgestaltung am Projekt noch intensiver und eindrucksvoller rüber; und man spürte die persönliche Auseinanderetzung mit der Geschichte. Sie ist Römerin, hat Literatur studiert, ist Shakespeare-Expertin und Übersetzerin für Englisch. Sie ist sehr in die Arbeit mit dem Centro Ricerche Musicali (CRM) eingebunden und arbeitet mit hiesigen zeitgenössischen Komponisten wie Santoboni oder Battistelli zusammen.
Und bei der Zugabe hat sie bewiesen, dass sie sich in eine Reihe mit Ella Fitzgerald stellen darf, als sie ein von Schiaffini bearbeitetes Gershwin-Stück, "Embraceable you", hinschmetterte und dazu auch noch tanzte.
Wir haben selten etwas so Beeindruckendes und Umwerfenden gesehen. Genial!
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Christa Blenk - 11. Dezember 2014 ID 8315
Weitere Infos siehe auch: http://www.giancarloschiaffini.com
Post an Christa Blenk
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