Moleküle, Wüste, Magnetton- und Videotapes
Musik von Edgar Varèse und Lorenzo Pagliei
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Der Komponist Edgar Varèse | Bildquelle: Wikipedia
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Nach einer fast zwanzigjährigen, selbst verordneten Privatklausur, betrat Edgar Varèse (1883-1965) im Jahre 1954 wieder das kompositorische Parkett, und es entstand Déserts. Gewaltig-rauschende, dissonante, farbige Musik, die auf seinen wichtigen Werken aus den 20er und 30er Jahren aufbaute und erstmals das Elektronische als Klangelement einsetzte.
Gestern Abend wurde diese Musik vom ausgezeichneten Ensemble Ars Ludi in der Aula Magna della Sapienza in Rom gespielt. (Bei der Uraufführung in Paris 1954 kam es übrigens wieder einmal zum obligatorischen Aufstand, denn Varèse hatte zum ersten Mal ein neuartige Erfindung als Klangquelle eingesetzt: das Magnettonband. „Der elektronische Klang ist ein Klang, den die Instrumente nicht hervorbringen können“, erklärte er.)
Bill Violas Video Déserts [Erstausstrahlung auf Arte/1994] besteht aus zwei ganz und gar unterschiedlichen Teilen, die am Ende ineinander verschmelzen. Sieben Sätze hat Varèses Komposition: vier Orchesterparts und drei Magnettonsequenzen, die alternierend zum Zuge kommen und die Gegensätze von Geist und Natur beschreiben. Poetische Aufnahmen von der Wüste, dem Meer (über und unter Wasser), von Blitz und Feuer werden vom Orchester (bestehend aus 14 unterschiedlichen Holz- und Blechbläsern, 5 Perkussionsgruppen, einem Piano und einem Tonband) begleitet. Über der Bühne auf der Leinwand betritt ein religiös anmutender und hell gekleideter Mann in Zeitlupe ein Zimmer, und dazu stimmt die organisierte Magnettonbandmusik ein. Fast schwebend und andächtig setzt er sich, rücklings zum Publikum, mit einer Tasse in der Hand an den Tisch. Darauf stimmt das Orchester wieder ein, und man fliegt weiter durch das Natur-Geschehen außerhalb dieses Hopper'schen Zimmers. In den darauf folgenden zwei Magnettonband-Sequenzen gießt der Mann sich ein Glas Wasser ein - eine Szene, die den Film für Sekunden in ein Stillleben aus dem 18. Jahrhundert verwandelt - und trinkt. Im dritten Teil stößt er das Glas Wasser um, steht auf, stürzt sich in das fallende Wasser und taucht im tiefen Ozean unter. Das Publikum zuckt zurück, weil er für eine Zehntelsekunde auf es zukam. Eine unsagbar faszinierende und schöne und immer die Musik begleitende Szene. Mit dem Wort „déserts“ (Wüste) wollte Varèse das Ferne und Nichtaufhörenwollende ausdrücken – Wasser, Berge, Himmel, gerade Straßen, Sand – all das als Veranschaulichung der essenziellen menschlichen Einsamkeit.
Leider nimmt das faszinierende Video viel von der Aufmerksamkeit, die man sonst nur der Musik geschenkt hätte. Aber es ist ein großartiges Post-Mussorgsky-Erlebnis.
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Zwei weitere fundamentale Kompositionen dieses außer- und ungewöhnlichen und komplett unterschätzen Komponisten rundeten den Varèse-Abend ab.
Einmal eine intelligente Großstadtbeschreibung. Hierfür hat Varèse ein Musikgesetz gebrochen und zum ersten Mal in der Musikgeschichte ein Orchesterwerk nur für Perkussion geschrieben. Besser kann man eine Stadt wie New York, wo Varèse seit 15 Jahren seinen Wohnsitz hatte, nicht beschreiben. Unterschiedliche Sirenen, vierspuriges Überholen, Schnelligkeit, Langsamkeit und Stau, dröhnende Jazz-Elemente, röhrende US-Marschmusik zu den wie bei der Independence Day Parade und ein friedliches Kirchenglocken-Finale. Ionisation (Kollision von Molekülen). Stundenlang möchte man zuhören, mitfahren, mitspielen, mitlaufen… Varèse machte keinen Unterschied zwischen Lärm und Ton, was den Weg für ganz neue Töne und Klänge öffnete.
Intégrale für Bläser und Perkussion entstand 1925, als Varèse bereits seit 10 Jahren in New York lebte; hier fusionierten all seine persönlichen Eindrücke der Debussy- und Ravel-Welt, der Berliner Luft, der Begegnung mit Richard Strauss und des Wiener Schmäh mit denen der neuen, jazzigen US-Welt.
Edgar Varèse ist in Paris geboren, ging als junger Student nach Paris und dann nach Berlin, wo er Richard Strauss und Busoni kennen lernte. 1915 übersiedelte er endgültig nach New York. Leider sind alle seine Frühwerke verbrannt. Das erste bekannte Oeuvre ist das dissonante und rhythmisch sehr komplexe Orchesterstück Amérique für großes Orchester, das 1921 entstand. Vor dem Zweiten Weltkrieg verbrachte er nochmals mehrere Jahre in Paris, dort entstand auch Ionisation; er nutzte übrigens schon sehr früh die Ondes Martenot. 1965 starb dieser Vorreiter der Moderne in New York.
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Ars Ludi (Antonio Caggiano, Rodolfo Rossi, Gianluca Ruggeri) stellte außerdem als Weltpremiere ein Werk des Italieners Lorenzo Pagliei (*1972) vor: Polaris für drei Perkussionsinstrumente (2015). Für unsere Ohren hörte sich das konventioneller als die betörende Varèse-Musik an. Pagliei hat vor allem Rhythmus und Rhythmusänderungen in den Vordergrund gestellt. Meine Assoziationen damit hatten allerdings etwas mit rituell-primordialer und sehr angenehmer Busch- oder Indianertrommelmusik zu tun. Am Pult Tonino Battista, wie immer bestechend. Er ist ein Spezialist für neue und elektronische Musik.
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Das Ensemble Ars Ludi mit Varèses Déserts in der Aula Magna della Sapienza, Rom | Foto (C) Christa Blenk
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Christa Blenk - 26. November 2015 ID 9006
Weitere Infos siehe auch: http://www.concertiiuc.it/
Post an Christa Blenk
eborja.unblog.fr
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