Die Erlkönigin
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Thomas Lichtenecker (als Miles) und Emma Bell (als Governess) in Brittens The Turn of the Screw an der Staatsoper im Schiller Theater - Foto (C) Monika Rittershaus
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Bewertung:
Stücke, die sich insbesondere um Depressivität von Frauen drehen, gibt es (nicht nur in der Oper) viele. An der Staatsoper Unter den Linden kann und konnte man dergleichen in sehr gut bewerkstelligten Produktionen nach und nach erleben - ich erinnere mich da z.B. an das depressiv gestimmte Mutter-Tochter-Doubel aus Footfalls von Samuel Beckett (Regie: Katie Mitchell) oder die v.a. auch durch ihren Selbstmord in die Weltliteraturgeschichte Einzug gehalten habende Sylvia Plath aus Aschemond oder The Fairy Queen von Helmut Oehring; Letzteres hatte vor über einem Jahr der Opernregisseur Claus Guth hier überzeugend inszeniert.
Nun hatte ihn die Intendanz dazu bewegen können sich The Turn of the Screw (zu deutsch: "Die Überdrehung der Schraube") vorzunehmen und schön tiefenpsychologisch auszuloten - denn nach Selbstaussagen Guths wäre er eigentlich DER Mann für derartige Fälle: "Viele Leute haben mir im Lauf der Jahre gesagt, diese Oper sei wie für mich gemacht, weil ich als Spezialist für Psychotrips, für komplizierte Frauenfiguren und Erzählkonstellationen gelte." (Quelle: Berliner Zeitung v. 14.11.2014)
Es ist zudem - ganz nebenbei bemerkt - die allererste (!) Britten-Oper, die die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Berlin aus einem der Orchestergräben ihrer hie und da bespielten Häuser aktuell herausertönen lassen; hält man es für möglich?
Guth erklärt Irene Bazinger [die ihn in der Berliner Zeitung zu dem Thema interviewte] das Stück so: "Eine Frau, die Governess, also Gouvernante, erhält den Auftrag, sich in einem Haus um zwei verwaiste Kinder zu kümmern. Dort passieren dann merkwürdige Dinge. Darüber hinaus geht es um Gegensatzpaare wie Schuld und Unschuld, Realität und Fiktion, und um Wahrnehmung im Allgemeinen. Denn als Zuschauer fragt man sich bald: Geht die Governess tatsächlich durch ein Haus mit realen Türen und Räumen? Oder blicken wir in das Unbewusste eines Menschen, der in seinem inneren Reich alle möglichen Türen öffnet, die ihn erschrecken?" (Quelle: dto.)
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Wir merkten schnell - auch mittels der so uneinordbar hin und her schwirrenden Britten-Klänge, die von Ivor Bolton hochvorzüglich einstudiert und bei den Staatskapelle-Musikern herausgekitzelt worden waren - , dass die Hauptfigur (von Emma Bell gespielt/gesungen) irgendwie an Folgen einer unverarbeiteten, urzeitlichen Depression zu leiden haben musste und weswegen sie sich gleich zu Stückbeginn kurz hinzulegen und alptraumschwanger herumzuzucken voll genötigt sah.
Und sowieso ist diese Britten-Oper ein ganz merkwürdiges Gouvernantenstück, denn gleich mal drei (als Ziffer: 3) Bedienstete dieses Sozialberufszweiges geistern dann unaufhörlich durch die so obskure Handlung: Mrs. Grose (Marie McLaughlin), jene schon erwähnte Governess (Bell) und Miss Jessel, deren Vorgängerin (Anna Samuil) - die wiederum hatte sich, nach Beendigung des Jobs, mit Peter Quint (von Richard Croft tontrichterhaft vermittelt; in der Art musste dann auch die Samuil sich äußern), welcher früher und zu Jessels Zeiten Hausdiener auf Bly gewesen war und den der Knabe Miles (liebreizend dargestellt und makellos gesungen von dem jungen Countertenor Thomas Lichtenecker!) unerklärlich menschlich-anziehend gefunden hatte, schwägerlicher Weise eingelassen. Flora (Sónia Grané), die kleine Miles-Schwester, spielte zwar auch noch eine Rolle - aber so sehr wichtig war die allen anderen Beteiligten dann auch nun wieder nicht...
Nach hundertfünfminütiger Lektüre aller Übertitelungen wurde letztlich klar: Die Governess hatte eindeutig ein hochsexuelles Interesse an dem ihrer Obhut Anbefohlenen - und so mutierte sie, ganz zwanghaft, zur Erlkönigin des Abends! Zum abschließlichen Dinner for One hatte sie es bereits längst hinter sich gebracht, und Miles hing offnen Mundes an dem gegenüberliegenden Tischende und... "Das Kind war tot."
Die großartige und in tiefem Weinrot eingetauchte Drehbühne von Christian Schmidt war fast schon filmreif. Dieses herrschaftliche Haus auf Landgut Bly kriegte hierdurch ein sich doch arg verselbständigendes "bewegtes Innenleben" - innerhalb von solchen Wänden muss man irre werden. Keine Frage.
Selten eine solche Ideal-Symbiose zwischen Szene und Musik erlebt!
Grandios gemacht.
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Emma Bell (als Governess) und Thomas Lichtenecker (als Miles) in Brittens The Turn of the Screw an der Staatsoper im Schiller Theater - Foto (C) Monika Rittershaus
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Andre Sokolowski - 16. November 2014 ID 8249
THE TURN OF THE SCREW (Staatsoper im Schiller Theater, 15.11.2014)
Musikalische Leitung: Ivor Bolton
Inszenierung: Claus Guth
Ausstattung: Christian Schmidt
Licht: Sebastian Alphons
Dramaturgie: Yvonne Gebauer
Besetzung:
Governess ... Emma Bell
Miles ... Thomas Lichtenecker
Flora ... Sónia Grané
Mrs. Grose ... Marie McLaughlin
Proludue/Peter Quint ... Richard Croft
Miss Jessel ... Anna Samuil
Staatskapelle Berlin
Premiere war am 15. November 2014
Weitere Termine: 19., 22., 27., 30. 11. / 5. 12. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de
Post an Andre Sokolowski
http://www.andre-sokolowski.de
Siehe auch Premierenkritik zu:
Die Schändung der Lucretia
(Deutsche Oper, 14.11.2014)
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