Zeitkugel im
Bühnenkreis
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Die Soldaten an der Oper Köln | Foto © Paul Leclaire
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Bewertung:
Eine Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns einziger vollendeten Oper Die Soldaten ist ein Ereignis. Das Hauptwerk des Komponisten gehört zu den Meisterstücken Neuer Musik des 20. Jahrhunderts. Zimmermann verfolgt mit ihm ein strenges Schema und eine Aufsplitterung künstlerischer Mittel. Es stellt als multimediales Spektakel immense Anforderungen an die Raumsituation, das Orchester, die Solisten, die Elektronik und die Bühne. Bei der Uraufführung in der Kölner Oper war es 1965 ein Überraschungserfolg. Zum 100. Geburtstag des rheinischen Komponisten wurde es nun erstmals wieder an seinem Uraufführungsort gezeigt. Alle Opernabende im renovierungsbedingten Ausweichquartier, dem Staatenhaus auf dem Deutzer Messegelände, waren frühzeitig ausverkauft.
Carlus Padrissa (La Fura dels Baus), der bereits mit Das Lied der Frauen vom Fluss oder auch Wagners Parsifal hier überraschte, setzte Zimmermanns Theatervision eindrücklich und spannungsvoll um.
Zimmermann, der selbst als Soldat im Zweiten Weltkrieg diente, schrieb Die Soldaten in Königsdorf (Frechen) vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung. Es kann gemutmaßt werden, dass er mit ihnen und ihrer düsteren, von Ausweglosigkeit geprägten Weltsicht seine eigene Sinnkrise, Verzweiflung und Resignation verarbeitete. Er nahm sich 1970 das Leben. Als Vorlage dient Jakob Michael Reinhold Lenz´ Drama Die Soldaten: Eine Komödie (1776). Ihr Autor kritisierte darin das gewissenlose Verhalten von Soldaten gegenüber Töchtern bürgerlicher Herkunft. J.M.R. Lenz, der selbst seinerzeit im Dienste adliger Soldaten stand, ist im Bereich Neue Musik kein Unbekannter mehr; seine Vorlage wurde bereits 1930 von Manfred Gurlitt vertont. Und Wolfgang Rihms Oper Jakob Lenz (1978) handelt vom labilen psychischen Zustand des deutsch-baltischen Schriftstellers; auch in Georg Büchners Dramenfragment Lenz (1839) geht es darum...
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Das Publikum ist kreisförmig von einer Rundbühne umgeben. Alle Zuschauer sind auf Drehstühlen ohne Lehne platziert. Die im inneren Kreis des Geschehens Sitzenden müssen sich auf ihren Stühlen selbst bewegen, wenn sie alle Szenen visuell wahrnehmen möchten. Von mehreren Seiten erklingen räumlich verteilte Orchestergruppen. Drei Assistenten dirigieren gleichzeitig mit Kölns Generalmusikdirektor Francois-Xavier Roth, der während der Aufführung keinen direkten Kontakt zu allen Musikern und Solisten halten kann.
Uniformierte Militärs sind von der Eingangsszene an auf der Bühne stets sehr präsent. Die nach Genuss suchenden Soldaten muten wie eine Meute von Hyänen an. Der Ausdruck „Hure“ fällt immer wieder. Die Soldaten erscheinen verroht und übergriffig, brutal und sittenlos. Trotzdem genießen sie die Aufmerksamkeit und das Interesse junger Mädchen. Marie, Tochter des angesehenen Kaufmanns Wesener, gibt dem Werben eines skrupellosen Offiziers nach. Sie verliert ihren Verlobten Stolzius, ihren guten Ruf, wird verstoßen und gerät in stets neue Abhängigkeiten. Einzelne Soldaten wie der Hauptmann Pirzel oder der Feldprediger Eisenhardt versuchen in kurzen Solos die jungen Offiziere zu belehren und davon zu überzeugen, weniger gewissenlos zu agieren. Ihnen wird kaum Gehör geschenkt.
Eine allgemeine Brutalisierung findet durch voranschreitende und pulsgebende Paukenschläge Ausdruck. Mehrere Instrumentalgruppen spielen teils parallel mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Verschiedene rhythmische und temporale Schichtungen überlagern sich. Die Handlung, die in Lille im französischen Flandern um 1775 angelegt ist, kann auch zu jeder anderen Zeit und jedem anderen Ort spielen. Bernd Alois Zimmermann prägte den Begriff einer Kugelhaftigkeit der Zeit, bei der gestern, heute und morgen im Sinne einer intendierten Zeitlosigkeit ineinander übergehen und Momente des Seins gleichermaßen und gleichzeitig durchdringen. Zeit wird dabei nicht linear aufgefasst. Es gibt eine statische und somit bleibende Zeit. Musikalischen Ausdruck findet dies, indem unterschiedliche Zeitschichten, wie verwendete historische Zitate, Motive und Stile aus anderen Epochen, serielle Muster und Collagen in die Musik gelegt werden.
Zur hochgradigen Komplexität der Vorstellung trägt bei, dass auch die Handlung aufgesplittert wird. Zeitlich und räumlich getrennte Ereignisse werden simultan vorgeführt und dadurch miteinander verschränkt. Es werden während des Spiels verschiedene Filmprojektionen auf unterschiedlichen Monitoren nebeneinander eingebunden. Elektronische Texturen, militärische Geräusche und Gesprochenes kontrastieren teilweise effektvoll mit der spannungsvoll getragenen Musik. Die Sänger wechseln zwischen Gesangs- und Sprechstimme. Neben Szenen mit Ballett und Tanz treten eindrucksvolle, tumultös vielstimmige Massenszenen.
Die Musik schreitet erbarmungslos, unsentimental und mit bewusst schrägen Tönen voran. Sie dient in erster Linie eben nicht dazu, dem Schicksal der Hauptprotagonistin Marie Ausdruck zu verleihen. Die schonungslose Ausgestaltung musikalischer Motive und Muster verleiht dem Handlungsverlauf eine exemplarische Bedeutung. Die Aufführung will mehr sein als nur eine sozialkritische Fallstudie. Marie wird wie viele andere Frauen in Kriegszeiten gedemütigt und fällt als Ehrlose einer Ächtung, Verstoßung oder schlussendlich sozialen Auslöschung anheim. Es ist keine Zeitenwende für den circulus vitiosus in Sicht, wenn die Oper effektvoll in einem sogenannten Zeitstrudel endet. In der Ursprungsfassung sollte sich eine Atomwolke über das Geschehen senken. An der Oper Köln wird man zu guter Letzt von Scheinwerferlicht mit maximaler Lichtkraft geblendet.
Zutiefst geflasht wird das Publikum mit allerlei Anregungen und Grundsatzfragen in den Abend entlassen wie etwa, was mögliche Hierarchien durch Standeszugehörigkeit oder Geschlechterrolle für den Mensch heute noch bedeuten und wie sich gesellschaftliche Missverhältnisse heute verändern lassen. Als Zuschauer und Zuhörer fühlte man sich durch die einzigartige 360-Grad-Bühnenkonzeption mehr in das Geschehen hineingezogen als anderswo. Insbesondere das vielstimmige Orchester, der Chor und die zahlreichen Solisten machten die Vorführung zu einem höchst eindrucksvollen Erlebnis.
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Die Soldaten an der Oper Köln | Foto © Paul Leclaire
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Ansgar Skoda - 25. Mai 2018 (2) ID 10715
DIE SOLDATEN (Staatenhaus, 20.05.2018)
Musikalische Leitung: François-Xavier Roth
Inszenierung: Carlus Padrissa (La Fura dels Baus)
Bühne: Roland Olbeter
Kostüme: Chu Uroz
Licht: Andreas Grüter
Video: Marc Molinos und Alberto de Gobbi
Klangregie: Paul Jeukendrup
Choreografie: Mireia Romero Miralles
Dramaturgie: Georg Kehren
Besetzung:
Wesener, ein Galanteriehändler in Lille … Frank van Hove
Marie, seine Tochter … Emily Hindrichs
Charlotte, seine Tochter … Judith Thielsen
Weseners alte Mutter … Kismara Pessatti
Stolzius, Tuchhändler in Armentières … Nikolay Borchev
Stolzius' Mutter … Dalia Schaechter
Obrist, Graf von Spannheim … Miroslav Stricevic
Desportes, ein Edelmann … Martin Koch
Pirzel, ein Hauptmann … John Heuzenroeder
Eisenhardt, ein Feldprediger … Oliver Zwarg
Haudy … Miljenko Turk
Mary … Wolfgang Stefan Schwaiger
Drei junge Offiziere … Young Woo Kim
Dino Lüthy … Peter Tantsits
Die Gräfin de la Roche … Sharon Kempton
Der junge Graf, ihr Sohn … Alexander Kaimbacher
Andalusierin … Katerina Giannakopoulou
Drei Fähnriche … Alexeider Abad Gonzalez, Adrián Castelló und Charles de Moura
Madame Roux, Inhaberin des Kaffeehauses … Silke Natho
Der Bediente der Gräfin de la Roche … Alexander Fedin
Der junge Fähnrich … Ján Rusko
Der betrunkene Offizier … Hoeup Choi
Drei Hauptleute … Heiko Köpke, Carsten Mainz und Anthony Sandle
Offiziere und Fähnriche … Mitglieder des Herren- & Extrachores der Oper Köln und Gäste
Gürzenich-Orchester Köln
Premiere an der Oper Köln: 29. April 2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.oper.koeln
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