Der Isländer
|
|
Bewertung:
Auch das diesjährige Bachfest Leipzig, das vom 11. bis 21. Juni stattfinden sollte, wird - wegen Corona - ausfallen. Es sollte unter dem Motto BACH – We are FAMILY! stehen und wird nun dergestalt, falls alles gut geht, in zwei Jahren, also in 2022, nachgeholt...
Nichtsdestotrotz wurde dann heute Nachmittag einer der Hauptprogrammpunkte der laufenden Saison spontan und kurzerhand als Live-Stream aus der Thomaskirche und als Botschaft (nicht nur von und zu den Bach-Fans) in die Welt gestreut à la "Passion trotz(t) Pandemie"
Uns Zusehern und Zuhörern wurde so vorgeführt, wie sich Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion mehr oder weniger zu dritt, in einer Minimalfassung (für Tenor, Schlagwerk und Orgel/Cembalo), ausnimmt; aber selbstredend gab es auch die vielen Chöre, nur halt diesmal etwas anders als gewohnt:
"Der isländische Tenor Benedikt Kristjánsson erzählt ausgehend vom Evangelisten die komplette Passion, nimmt verschiedene Rollen ein, singt dabei auch die Alt- und Sopran-Arien und dirigiert den virtuellen Chor:
'Vor acht Jahren war ich zum ersten mal in der Thomaskirche in Leipzig. Ich hatte einen Blumenstrauß in der Hand und Tränen in den Augen. Beides legte ich auf Bachs Grabplatte. Seit diesem Moment habe ich davon geträumt, in der Thomaskirche zu singen. Am kommenden Karfreitag geht ein Traum in Erfüllung, unter unfassbaren Umständen. Ich bin sehr dankbar und ich hoffe, dass Bach-Liebhaber auf der ganzen Welt mit mir singen werden.'
Die Cembalistin und Organistin Elina Albach und der Schlagzeuger Philipp Lamprecht zeichnen mit ihrer farbenreichen Bearbeitung das Orchester nach. Es entsteht eine neue, zeitgenössische, und doch dem Original gegenüber sehr respektvolle Version, die die ganze Dramatik der Passion auf einen kammermusikalischen Punkt bringt.
Für die Choräle werden prominente Musiker*innen und Bach-Chöre u.a. aus Malaysia, Kanada, den USA, Österreich und den Niederlanden zugeschaltet. Zudem sind alle Zuschauer*innen zuhause zum Mitsingen eingeladen."
(Quelle: podium-esslingen.de)
|
Der Tenor Benedikt Kristjánsson, der Schlagzeuger Philipp Lamprecht und die Cembalistin Elina Albach (v.l.n.r.) musizieren Bachs Johannes-Passion... | Foto (C) Nino Halm; Bildquelle: carus-verlag.com
|
*
Ich sitze vor meinem Rechner, habe meine Kopfhörer auf und muss mich - durchgehend, vom Anfang bis zum Schluss des anderthalbstündigen Livekonzerts - beherrschen, dass ich nicht vor niederstreckender Erschlagenheit meinen Verstand verliere, höchstwahrscheinlich (wohl in erster Linie) auch, weil dieser völlig widernatürliche Zustand eines zwanghaft-zwangsweisen Gemeinschaftseins per Internet auf eine hochprofane Ursache zurückzuführen ist, die fühlbar ALLE, die die "Menschennähe" derzeit virtuellermaßen suchen, gegenseitig näher bringt, verbindet und vereint, ihr Name ist: Corona.
Ja und plötzlich - lauscht man jener Deklamierungsart Benedikt Kristjánssons, dessen Evangelistenpassagen schier enthäutend auf den Hörer und Versteher (!) des Johannespassion-Texts aufs Gnadenloseste herniederprasseln - scheint die Welt, so wie sie war und ist und bleibt, doch irgendwie wieder "in Ordnung"; es gibt wahrlich Größeres, Erschütternderes und Erhabeneres als die momentane Tücke dieser Drecksseuche, will ich ganz großmütig-getröstet vor mich hin sinnieren, und ich lasse einfach jetzt meinen Gefühlen freien Lauf...
Diese unglaubliche Performance, die so ungeheuerlich nach einer One-Man-Show Kristjánssons aussieht, macht sie freilich dahingehend außerordentlich suspekt - dennoch und ungeachtet aller möglichen und unmöglichen "Einwände", was diesen ambitionierten Solo-Akt betrifft: Der Sängerdarsteller entpuppt sich als real-unangreifbarer Souverän des experimentellen Unterfangens! Das Betörerische seiner Stimme, die man sich zwischen Tamino, Loge und Flamand in etwa vorzustellen hätte, ist so stark, dass ich mitunter kaum noch an mir halten kann und ungehemmt drauf los heule; o Mann!!
Und Gänsehautmomente auch beim jeweiligen Live-Zuschalten von Chor- und Orchestermitgliedern aus aller Welt, welche dann einige von den Chorälen (quasi jeweils einzeln und aus ihren jeweiligen Home-Offices) beisteuern - tontechnisch wurde das in live zusammengemischt und so als Choriges quasi perfektioniert.
Sensationelles Karfreitagserlebnis 2020!!!!!
|
Andre Sokolowski - 10. April 2020 ID 12156
J. S. Bach: Johannes-Passion (Thomaskirche Leipzig, 10.04.2020)
Eingerichtet für Tenor, Cembalo, Orgel und Schlagwerk
Musikalische Bearbeitung: Philipp Lamprecht, Elina Albach und Benedikt Kristjánsson
Idee & Produktion: Steven Walter / PODIUM Esslingen
Konzept: Benedikt Kristjánsson
Besetzung:
Benedikt Kristjánsson, Tenor
Elina Albach, Cembalo und Orgel
Philipp Lamprecht, Schlagwerk
Isabel Meyer-Kalis und Julia Sophie Wagner, Sopran
David Erler, Altus
Wolfram Lattke, Tenor
Thomaskantor Gotthold Schwarz, Bass
Hartmut Becker, Violoncello
Ottawa Bach Choir
J. S. Bach-Stiftung St. Gallen
Mitglieder des Thomanerchors Leipzig
Bachfest-Family-Chor
Miriam Feuersinger, Reginald Mobley, Martin Petzold, Klaus Mertens, Michael Maul, Rudolf Lutz und Ton Koopman
Malaysia Bach Festival Singers and Orchestra
Bachfest Leipzig in Kooperation mit PODIUM Esslingen, dem MDR und ARTE Concert
Live-Stream aus der Thomaskirche zu Leipzig am 10. April 2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.bachfestleipzig.de/de/bachfest/passion-trotzt-pandemie
http://www.andre-sokolowski.de
Konzertkritiken
Live-Stream
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|