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Castorfopern (28)

"Oh Jimmy!"

Vielleicht die Hälfte aller anwesenden Premieren-
besucher von LA FORZA DEL DESTINO schien womöglich nicht nur intellektuell von Castorfs vielseitigen
Angeboten überfordert


La forza del destino an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Thomas Aurin

Bewertung:    



Für die Intendanten großer und berühmter Häuser sollte es nicht abwegig genug sein, wenn in einem ihrer Tempel "urplötzlich" (und bis zur Pause war auf jeden Fall von vorbereitenden Symptomen einer etwaigen Kettenreaktion noch nichts zu spüren) die Besucher jede Art von Contenance verlieren und es dementsprechend laut und deftig zugeht; derart blieb und bleibt ein Haus historisch in den Schlagzeilen, und sein Besucheranstrom könnte sich, was den konkreten Stein des Anstoßes betrifft, fast wie von selber maximieren.

*

Gestern Abend (nach der Pause von La forza del destino) kochte in der DOB [seit Neuenfels' Nabucco vor Jahrzehnten so nicht mehr erlebt] der elitärfraktionelle "Volkszorn" hoch, und die für Pro und Contra leidenschaftlich sich ins Zeug werfenden Wortführer taten sich gegenseitig derart hochschaukeln, dass der Verlauf der Aufführung minutenlang ins Stocken geriet. Was war passiert?

Frank Castorf (!), der die Oper inszenierte, ließ zunächst erst einmal jenen - zwischenzeitlich für fast alle seine Großprojekte als Markenzeichen unverzichtbar gewordenen - "Engel der Verzweiflung" aus dem Heiner-Müller-Auftrag herzitieren, und zwar von dem brasilianischen Showtänzer Ronni Maciel, dem in La forza del destino die prinzipielle Aufgabe zuteil wurde, eine als "Der Indio" auf dem Besetzungszettel zusätzlich gecastete Person der Handlung zu performen, was dann gleichsam wiederum mit der schier unübersichtlichen Opernhandlung bei Verdi zu tun hat, wo es um die indigene Abstammung einer der beiden männlichen Hauptfiguren geht. Und weil sich unser brasilianischer Freund in seinem Vortrag durch teils unqualifizierte Zwischenrufe herausgefordert zu fühlen meinte, hub er nochmals selbstbewusst und zielführend zum gleichen Vortrag (als Kalkül der Inszenierung) an, was dann das Fass zum ersten Mal zum Überlaufen brachte...

Stufe zwei des inflationierenden Eklats:

Amber Frasquelle (als Cura) und Marko Mimica (als Pater Guardian) heben nun zu einem auf Englisch gesprochenen Dialog an, worin gelegentlich "Oh Jimmy"-Seufzer nachzuhören resp. auf den zweisprachigen Übertitelungen nachzulesen sind. Kein Mensch weiß freilich zu dem Zeitpunkt, woraus das nun wieder stammt. [Auch im Programmheft fehlt ein eindeutiger Querverweis; und das "Problem" bei Castorf sind dann jedesmal diese Verknüpfungen von sog. Fremdtexten, was ja an sich in Ordnung ist - nur sollte man, im wohlwollenden Sinne seiner Rezipienten, wenigstens um eine Korrespondierung der jeweiligen Quellen bemüht sein; dahingehend lieferte das von Dramaturg Jörg Königsdorf verantwortete Programmheft keine nennenswerte Hilfe!!!] - - zu vermuten bleibt, dass es sich um paar lose Ausschnitte aus dem Roman Die Haut von Curzio Malaparte gehandelt haben könnte, und bei Google gab es dahingehend ein paar Treffer, falls man parallel und gleichberechtigt nach den Suchbegriffen "Jimmy" UND "Malaparte" Ausschau hielt...







"Das Besondere an Verdis La forza del destino ist, dass der Alltag in die hohe Kunst der Oper einbricht. Es ist Krieg, Krieg, Krieg. Bei Verdi kämpfen spanische Truppen gegen die Habsburger. Dieser Krieg ist merkwürdig beschrieben. In einer Szene singt eine Zigeunerin: 'Der Krieg ist das Beste, was es gibt, wir sind stolz auf den Krieg!' Bei Verdi spiegelt sich Zerstörung auch in einer bestimmten Ästhetik, Opern zu schreiben. Er löst die Zeit auf, die Handlung, den Raum. Und ich ziehe mit Verdi ins Neapel 1943, in die Welt des Schriftstellers Curzio Malaparte, der in seinem Roman Die Haut beschreibt, wie die Amerikaner in Sizilien landen. Wie Mussolini gestürzt wird. Wie Italiener, die zuvor im Widerstand gegen die Faschisten gearbeitet haben, plötzlich ihre Brüder, Töchter, Mütter verkaufen. Es herrscht Sodom und Gomorrha. Auch so kann Befreiung aussehen. Manchmal ist es schwerer, Befreiung zu ertragen, als besiegt zu werden, schreibt Malaparte.

Solche Brutalität interessiert mich, deshalb suche ich diese Stoffe."


(Frank Castorf auf deutscheoperberlin.de)


Das Alles [s.o.] war dem reaktionären Block der sich die intellektuelle Vollbeanspruchung Verbittenden letztendlich scheißegal, ja und so kam es halt zu den Verbalentgleisungen. Castorf hatte das selbstverständlich "eingepreist" - - ein Glück für ihn auch, dass der sonsthin alle Endgeschicke in der Oper (mit-)bestimmende und maßgeblich verantwortende Dirigent vom Schlage eines Jordi Bernàcer gewesen war.

Ja und wir wollten diesbezüglich nicht vergessen, auf den eigentlichen Opern-Anteil kurz noch abzuheben, also:

Russell Thomas (als Don Alvaro) sowie Markus Brück (als Don Carlo di Vargas) sangen und spielten explosionshaft gut, dass man sich schwer ein glaubhafteres Antipoden-Paar in diesen beiden Rollen vorzustellen willens war!!

Maria José Siri (als Donna Leonora) hatte ebenso extreme Leidenschaften aufzuweisen - wenn sie nur dann öfter auch den rechten also treffsicheren Ton gesungen haben würde.

An der Seite des vorzüglich singenden und spielenden (!) Chors der Deutschen Oper Berlin konnte sich selbst Agunda Kulaeva (als Preziosilla) relativ gut behaupten.

Misha Kiria (als Fra Melitone) fiel noch akzeptabel auf.

* *

Bei Wagners Ring oder beim (ebenso durchkomponierten) Janáček-Totenhaus klappen so Ein-Textungen nicht - beim Verdi konnte Castorf es jetzt vergewaltigender Weise ausprobieren; spannend wäre es, ähnliche Vorgehens- oder Vergehensweisen spaßenshalber mal bei Mozart-Opern angeboten zu bekommen; wir sind jedenfalls für weitaus mehr in dieser Richtung offen, ja. Nur zu!




La forza del destino (Regie: Frank Castorf) an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Thomas Aurin


Auch war in einem Wald-Video Jeanne Balibar (als "Milizionärin") lange Zeit zu sehen; doch das nur als Tipp für eingefleischte Balibar-Fans, die das auch noch sehen wollen würden.
Andre Sokolowski - 9. September 2019
ID 11667
LA FORZA DEL DESTINO (Deutsche Oper Berlin, 08.09.2019)
Musikalische Leitung: Jordi Bernàcer
Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Video-Design und Live-Kamera: Maryvonne Riedelsheimer, Andreas Deinert und Kathrin Krottenthaler
Chöre: Jeremy Bines
Dramaturgie: Jörg Königsdorf
Besetzung:
Der Marchese von Calatrava ... Stephen Bronk
Donna Leonora ... María José Siri
Don Carlo di Vargas ... Markus Brück
Don Alvaro ... Russell Thomas
Preziosilla ... Agunda Kulaeva
Pater Guardian ... Marko Mimica
Fra Melitone ... Misha Kiria
Curra ... Amber Fasquelle
Der Alkalde ... Padraic Rowan
Mastro Trabuco ... Michael Kim
Chirurgus ... Timothy Newton
Der Indio ... Ronni Maciel
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Premiere war am 8. September 2019.
Weitere Termine: 14., 18., 21., 24., 28.09.2019 // 17., 20., 26.06.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutscheoperberlin.de


http://www.andre-sokolowski.de

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