Der russische
Zar und das
20. Jahrhundert
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Adam Palka als BORIS an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Bewertung:
Die Verabschiedung der Texttreue, der immer kühnere Eingriff in die Vorlagen des Theaters bis hin zur völligen Umschreibung, die man verschämt „Übermalung“ nennt, hat sich lange auf Sprache beschränkt und vor dem Musiktheater Halt gemacht. Die Schonfrist ist zu Ende. Seit einiger Zeit stehen auch Kompositionen für Veränderungen und Ergänzungen mit Fremdmaterial zur Verfügung, die über die interpretatorische Freiheit, die es immer schon gegeben hat, weit hinaus reichen. Man könnte sagen: diese Tendenz geht in die zur Originalklangbewegung entgegengesetzte Richtung. Nicht Authentizität, nicht die Herstellung historisch gesicherter Zustände ist ihr Ziel, sondern die Aktualisierung, die Zubereitung für ein gegenwärtiges Publikum. Wir dürfen uns in dieser Hinsicht für die Zukunft auf einiges gefasst machen.
Wie beim Sprechtheater gilt allerdings auch hier: es gibt keine pauschale Antwort auf die Frage, was (künstlerisch) zulässig sei und was einem Werk Gewalt antut – meist zugunsten der Eitelkeit der Interpreten. In jedem Einzelfall muss überprüft werden, ob die Änderungen plausibel sind, ob sie dem Ausgangsmaterial etwas Sinnvolles hinzufügen oder es eher beschädigen. Ein überzeugendes Beispiel für einen provokanten Eingriff hat Michael Gielen geliefert, als er schon vor Jahrzehnten zwischen dem dritten und dem vierten Satz von Beethovens Neunter Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau einschob, oder in jüngerer Zeit Teodor Currentzis, der in La clemenza die Tito Mozart-Kompositionen, die nicht in diese Oper gehören, nämlich die Fuge aus Adagio und Fuge KV 546, Teile der Großen c-Moll-Messe sowie die Maurerische Trauermusik einfügte.
Ist also die Kontamination von Mussorgskis Boris Godunow mit der aktuellen Auftragskomposition von Sergej Newski zu lebensgeschichtlichen Aussagen, die die Journalistin und Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in Secondhand-Zeit dokumentiert hat, schlüssig? Ja und nein. Es hängt von den ästhetischen Überzeugungen des Betrachters ab. Wer dem Ideal eines harmonischen, in sich geschlossenen Kunstwerks nachhängt, wird die harte Konfrontation von Mussorgskis folkloristischer Melodik und Newskis frei tonaler Annäherung an den Sprechgesang ablehnen. Wer die modernere Konzeption von Brüchen und abrupten Übergängen befürwortet, wird, was nun unter dem Titel BORIS auf die Bühne der Stuttgarter Oper kam, goutieren. Die Einschübe wirken wie Fremdkörper. Eine Integration scheint nicht angestrebt zu werden, sondern lediglich eine ahistorische Analogie. Vielleicht kann man nur so zeitgenössische Musik unter die Leute bringen.
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Der Regisseur Paul-Georg Dittrich wollte offenbar der Irritation durch die Zwangsehe zweier sehr verschiedener Komponisten seine eigenen Verwirrungen hinzufügen. Das Dilemma des Abends beginnt, wenn sich der mit permanenten Videos bestrahlte Vorhang hebt. Was man hört, ist der mehrfach ausgezeichnete Staatsopernchor Stuttgart, und er war noch nie besser als hier, mit dem grandiosen Material, das Mussorgski zur Verfügung gestellt hat. Was man auf der abgedunkelten Bühne sieht, scheint eher aus Fritz Langs Metropolis zu stammen als aus Puschkins Retro-Russland. Russisch ist nur die Musik.
Nun gerät, wer derlei mit Skepsis betrachtet, flugs in den Verdacht, er würde einem Kostümtheater mit schweren Mänteln und russischen Versatzstücken nachweinen, wie es immerhin der große Andrej Tarkowski am Mariinski-Theater noch realisiert hat. Klaus Michael Grüber hat kurz vor seinem frühen Tod einen Boris Godunow inszeniert, der auf jeglichen äußerlichen Aufwand verzichtet und sich allein auf die Figuren konzentriert. Das Ergebnis war ebenso aufregend wie überzeugend. Paul-Georg Dittrich streift den Figuren die russischen Klamotten ab und hüllt sie mit der Hilfe von Pia Dederichs und Lena Schmid in Kostüme aus diversen Fantasiewelten. So hat der Zar, ehe er ganz in Rot blendet, seinen ersten Auftritt in glänzend goldener Montur wie ein Avatar. Und nichts darf dem Auge verraten, dass Pimen ein Mönch ist. Dafür hüpfen in der intimen Szene zwischen ihm und Grigori Otrepjew, dem „falschen Dimitrij“, Figuren umher, die eigentlich nicht hierher gehören, die Pimen mit Bändern festhalten und deren Bedeutung sich nicht unmittelbar erschließt. Gäste aus der Welt von Newski?
Mit gängigen Mitteln wird die Parallele zwischen Boris Godunow, dem Zaren vom Ende des 16. Jahrhunderts, mit russischen Herrschern des vergangenen Jahrhunderts suggeriert. Filmausschnitte auf einer Projektionsfläche oberhalb des kreisenden karussellartigen Gebildes, das den Blick auf einzelne Spielorte frei gibt, zeigen Chruschtschow, Gorbatschow, Jelzin. Später treten, durch überdimensionale Masken kenntlich gemacht, unter anderem Nikolaus II., Lenin, Gorbatschow, Putin als Bojaren auf.
Wenn Pimen von der Ermordung des Zarewitsch zu berichten beginnt, hält die Bewegung auf der Bühne inne und die Rede kommt auf die Ermordung von Juden durch Deutsche, die in dem Buch von Swetlana Alexijewitsch eins der Themen ist. Eine Wandschrift in kyrillischen Lettern verkündet ein zentrales Motiv von Mussorgskis Oper: „Weine, weine, russisches Volk.“
Dass Boris Godunow am Ende stirbt, bleibt Behauptung. Er macht keine Anstalten, es zu spielen. Der Tod findet im Orchester statt. Danach treten nur noch die „Zeugen“ aus Newskis Secondhand-Zeit auf, die Mutter des Selbstmörders, der jüdische Partisan, die Frau des Kollaborateurs, der Obdachlose, die Geflüchtete, die Aktivistin.
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So anfechtbar die Inszenierung ist, so hervorragend ist die Interpretation sowohl durch die Solisten, wie auch durch den Chor und das Orchester unter dem differenzierenden Dirigat von Titus Engel. Hervorgehoben seien die Bässe Goran Jurić als Pimen und Adam Palka in der Titelrolle, deren Furcht, deren Gefühl des Gejagtwerdens, deren Schuldbewusstsein er mehr mit dem Gesang als schauspielerisch gestaltet, Matthias Klink als Schuiski, Stine Marie Fischer in der Doppelrolle der Schenkwirtin und der Frau des Kollaborateurs und Petr Nekoranec als der Gottesnarr, der, in der für Stuttgart gewählten Urfassung von 1969 (ohne den Polen-Akt) um den effektvollen Auftritt kurz vor dem Schluss gebracht, für einen Höhepunkt der Aufführung sorgt. Die Kinder, die ihn quälen, sehen aus wie puppenartige alte Frauen in Trachten. Sie strangulieren den „Blödsinnigen“, und die Musik bestätigt diese Grausamkeit.
BORIS ist ein ambitioniertes Projekt gegenwärtiger Musiktheaterpraxis. Die Stuttgarter Oper hat (einmal mehr) ein umfangreiches Programmheft erstellt, in dem die Macher ihre Absichten erläutern. Fragt sich, ob sie jene ins Unrecht setzen, die, ohne vorherige Lektüre, die Premiere mit lautstarken Buhs quittierten. Die Qualität eines Opernabends bewährt sich auf der Bühne, nicht in Kommentaren.
Die Schreibweise der russischen Namen wurde jener des Programmhefts angeglichen.
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BORIS an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Thomas Rothschild - 3. Februar 2020 ID 11976
BORIS (Staatsoper Stuttgart, 02.02.2020)
Boris Godunow von Modest Mussorgski & Secondhand-Zeit von Sergej Newski
Musikalische Leitung: Titus Engel
Regie: Paul-Georg Dittrich
Bühne: Joki Tewes und Jana Findeklee
Kostüme: Pia Dederichs und Lena Schmid
Video / Regie Live-Videos: Vincent Stefan
Licht: Reinhard Traub
Chor: Manuel Pujol
Dramaturgie: Miron Hakenbeck
Live-Kamera: Tobias Dusche
Bildgestaltung: Lukas Rehm
Besetzung:
Boris Godunow ... Adam Palka
Fjodor / Die Aktivistin ... Alexandra Urquiola
Xenia / Die Geflüchtete ... Carina Schmieger
Xenias Amme / Die Mutter des Selbstmörders ... Maria Theresa Ullrich
Fürst Wassili Schuiski ... Matthias Klink
Pimen ... Goran Jurić
Grigori Otrepjew / Der jüdische Partisan ... Elmar Gilbertsson
Der jüdische Partisan (als Kind) ... Ramina Abdulla-Zadè
Der jüdische Partisan (als alter Mann) ... Urban Malmberg
Warlaam ... Friedemann Röhlig
Eine Schenkwirtin / Die Frau des Kollaborateurs ... Stine Marie Fischer
Ein Gottesnarr / Der Obdachlose ... Petr Nekoranec
Schtschelkalow ... Paweł Konik
Missail / Leibbojar ... Charles Sy
Mikititsch / Offizier der Grenzwache ... Ricardo Llamas Márquez
Mitjucha ... Matthias Nenner
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Premiere/Uraufführung (Secondhand-Zeit) war am 2. Februar 2020.
Weitere Termine: 07., 16., 23.02. / 02.03. / 10., 13.04.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de/
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