Pussy gegen
die Inquisition
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Don Carlos an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Bewertung:
Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister hat sich zu einer Mischung aus den sieben Versionen entschlossen, die Giuseppe Verdi zwischen 1867 und 1884 unter Druck von außen und aus eigener Entscheidung von seinem Don Carlos (in der italienischen Fassung: Don Carlo) hinterlassen hat. Er behält den Fontainebleau-Akt der ersten, französischen Fassung bei und orientiert sich ansonsten an der 1886 in Modena aufgeführten letzten Fassung. Hinzu kommt die heute gemeinhin gestrichene, zu Verdis Zeiten aber erwartete Ballettmusik, die Meister um eine moderne Komposition – die Pussy-(r)-Polka (mit Bezug auf die russische Band Pussy Riot) von Gerhard E. Winkler – ergänzt, die aber nicht mit Tanz, sondern mit einer symbolistisch-tiefenpsychologischen, schwer entschlüsselbaren Pantomime gefüllt wird. Das Ganze erreicht so, mit zwei Pausen, eine wagnersche Gesamtlänge von 4 Stunden und 45 Minuten.
Die niederländische Regisseurin Lotte de Beer pflegt einen größtenteils in Schwarz-Weiß getauchten szenischen Minimalismus. Ein kreisender, bis zur Decke reichender grauer Paravent verdeckt die Sicht und gibt den Blick dann auf die mit wenigen Zeichen ausgestatteten Bühne frei. Ein Palast reduziert sich auf ein breites Ehebett, in dem Carlos und Elisabeth eilig zur Sache kommen wollen, was freilich verhindert werden muss, damit die Königin in spe ihre Unschuld beteuern kann.
Die Regie verdoppelt die Tätigkeiten nicht. Wenn davon gesungen wird, dass jemand Reisig anzündet oder vor den Füßen kniet, tut er das partout nicht. Und während die Hofdamen von der Schönheit des Hains schwärmen, zeigt uns die Inszenierung, wie die Grausamkeiten des Kriegs weitergehen. Entsprechend tritt Karl V., wenn er es denn ist, der den in den Wahnsinn getriebenen Carlos zu sich holt, als blutiges Opfer der Inquisition auf.
Die Inquisition ist in de Beers Inszenierung unmissverständlich der Hauptangeklagte. Philipp II. (Goran Jurić) erscheint, bei allem autoritären Größenwahn, als ein Zerrissener, der sich tatsächlich nach einem Vertrauten sehnt. Elisabeth andererseits wird nicht idealisiert. Die Kaltherzigkeit und der Hochmut, mit denen sie ihre geständige Rivalin Eboli verbannt, drücken sich in ihrer Körpersprache aus. Ehe man aber ihre Entscheidung für Philipp und gegen Carlos verurteilt, muss man bedenken, dass die Konzeption der Liebesheirat jungen Datums und dazu oft verlogen ist, während die Vernunftehe in früheren Jahrhunderten der Normalfall war. Lotte de Beer macht erfahrbar, dass Elisabeth, vom „Volk“ angefleht, durch ihre Heirat den Krieg zu beenden hofft. Kein schlechtes Motiv.
Die Sänger gaben allesamt an diesem Abend ihr Rollendebüt. Massimo Giordano brachte zwar als Don Carlos den für die Italianità erforderlichen Schmelz mit, brauchte aber den ganzen ersten Akt, um zu einer präzisen Intonation zu gelangen. Björn Bürger als sein opferbereiter Freund und Mentor Marquis von Posa hat zwar eine weniger kräftige, aber klangschöne und wandlungsfähige Stimme. Die eigentliche Sensation des Abends aber waren die Damen, allen voran Olga Busuioc als Elisabeth von Valois, aber auch Ksenia Dudnikova als Prinzessin Eboli. Nicht zu toppen? Für die Sängerinnen dieses Don Carlos gilt das uneingeschränkt.
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Sagten wir eben, die Sensation des Abends seien die Damen auf der Bühne gewesen? Sie müssen sich das Lob mit dem Staatsorchester Stuttgart unten im Graben teilen. So präsent war es schon lange nicht mehr. Fast fünf Stunden, und kein Durchhänger! Cornelius Meister schärft die Konturen, scheut sich nicht vor dynamischen Ausreißern, die jedoch so genau austariert sind, dass sie die Stimmen nicht überlagern.
Heftiger Premierenapplaus für die Ausführenden, insbesondere für Olga Busuioc, einige unüberhörbare Buhs für die Regie. Die Gründe werden wir nie erfahren. Selbstdarsteller benötigen keine Argumente.
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Don Carlos an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Thomas Rothschild – 28. Oktober 2019 ID 11764
DON CARLOS (Opernhaus Stuttgart, 27.10.2019)
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Regie: Lotte De Beer
Bühne & Kostüme: Christof Hetzer
Licht: Alex Brok
Chor: Manuel Pujol
Dramaturgie: Franz-Erdmann Meyer-Herder und Peter Te Nuyl
Kampfchoreograf: Ran Arthur Braun
Besetzung:
Philipp II. ... Goran Jurić
Don Carlos ... Massimo Giordano
Marquis von Posa ... Björn Bürger
Der Großinquisitor ... Falk Struckmann
Ein Mönch ... Michael Nagl
Elisabeth von Valois ... Olga Busuioc
Prinzessin Eboli ... Ksenia Dudnikova
Thibault, Page Elisabeths ... Carina Schmieger
Eine Stimme vom Himmel ... Claudia Muschio
Graf von Lerma / Ein königlicher Herold ... Christopher Sokolowski
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Premiere an der Staatsoper Stuttgart: 27. Oktober 2019
Weitere Termine: 01., 03., 08., 10.11.2019 // 15., 21., 26.03. / 18.04.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de
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