Kein bisschen
leise: Lear
im Museum
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Lear von Aribert Reimann an der Bayerischen Staatsoper | Foto (C) Wilfried Hösl
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Bewertung:
Ein altertümlicher Museumsraum, abgeschabt das Weiß der Wände und Türen schmutzig. In den staubigen Glasvitrinen leblose Figuren. Ein Museumsführer schleust Besucher durch. Ein Mini-Stopp vor jeder Puppe, Musikschnipsel aus dem akustischen Guide. So schnell wie möglich wird weitergewinkt. Lear ist so tot wie seine Lieblinge, aufgespießte Insekten. Doch dann erwacht der König zum Leben und zur unseligen Verteilung des Erbes. Mit voller Wucht setzen Stimme und Orchester ein. Die Katastrophe ist da - gekommen, um zu bleiben. Aribert Reimanns Musik auch!
Reimanns so berühmtes wie gewaltiges Stück, der größte zeitgenössische Opernhit der letzten 50 Jahre, wurde hier in München 1978 uraufgeführt. Reimann, der lange Jahre seinen Lebensunterhalt als Klavierbegleiter bei Liederabenden verdiente, schrieb das Werk für Dietrich Fischer-Dieskau, mit dem er über 30 Jahre zusammenarbeitete und freundschaftlich verbunden war. Was für ein Einstand nach all den Zwangspausen – vor 700 Zuschauern und einem halbvollen Orchestergraben! Blechbläser, Chor und Schlaginstrumente mussten coronabedingt aus dem Probenraum zugespielt werden. Man hörte es nicht!
Was für ein Unterfangen! Shakespeares Lear ist einer der schwärzesten Stoffe der Weltliteratur. Daran scheiterte sogar ein Verdi. König Lear vererbt bekanntlich sein Reich vorzeitig an seine beiden machtgierigen Töchter und verstößt die einzig dankbare, weil sie ihm nicht schmeichelt. Ohnmächtig muss er den tödlichen Machtkämpfen zusehen, die er selbst heraufbeschworen hat.
„Die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit des Lebens ausgesetzt“, so Reimann. Das muss man sich erst mal zutrauen. Der heute 85-jährige Komponist brauchte dazu die Bombennacht von Potsdam: ein traumatisches Jugenderlebnis, ohne das er sich diesem Thema nach eigener Aussage nicht ausgesetzt hätte. Kein Wunder, dass Christian Gerhaher, der große Bariton in der Nachfolge Fischer-Dieskaus und an diesem Abend bravourös in der Titelrolle, zunächst zögerte, den Part zu übernehmen. Zu schwer, zu laut, zu anstrengend sei die Partitur, Musik wie „Körperverletzung“.
Anstrengend, ja, das ist diese höchst expressive Musik, die fortissimo anfängt und sich nur noch in der großartigen „Heide-Szene“ steigert, als Lear von seinen Töchtern hinausgeworfen wird – ins Unwetter. Und doch faszinieren diese Klänge mit ihren vielen Halb- und Vierteltönen bis hin zum leisen, melodiösen Schluss, der gleichwohl verstörend bleibt. Bis zum Ende keine Auflösung in Harmonie und Wohlgefallen.
Eine solch anspruchsvolle Partitur erfordert von allen Beteiligten höchste Kunst. Das gesamte Ensemble – am Pult Jukka-Pekka Saraste - ist denn auch Weltklasse bis in jede Nebenrolle hinein. Die Töchter Lears (Angela Denoke, Ausrine Stundyte, Hanna-Elisabeth Müller) bei aller Forciertheit ihrer extremen Sopranrollen eben nie schrill, der Countertenor Edgar (Andrew Watts) anrührend, Gloster (Georg Nigl) ein Charakter, der König in seinem Wahn glasklar, sich scheinbar mühelos gegen das gesamte Orchester durchsetzend.
Dazu einer, dessen ruhige, langsame Arbeit eigentlich gar nicht zu diesem musikalischen und dramaturgischen Dauerfeuer passt. Der Regisseur Christoph Marthaler ist bekannt dafür, Situationen umzudrehen, Gegengewichte aufzuspüren. Gerade angesichts dieser Musik und dieses Stoffes macht es Sinn, hebt manchen Über-Druck auf. So scheitert Lear auch, weil er sich auf das Kleine, seine Insektensammlung konzentriert (das Programmheft zeigt faszinierende Fotos ihrer Facettenaugen), und das große Ganze aus dem Blick verliert. Kein Blut, keine ausgestellten Todesszenen, keine Mörder-Psychologie.
Dafür eine reduzierte Bühne (Anna Viebrock), auf der die Kombattanten immer wieder ihre Rollwagen oder Umzugskisten erklettern, Machtworte von der brüchigen Empore werfen, Fahrstühle sich öffnen und doch leer bleiben. Der Sturm spielt sich im Kopf ab - und bleibt dankenswerterweise für die Musik reserviert, so wie der Wahnsinn, die Mordlust, die Machtgier. Marthaler schafft der Realität entrückte Figuren: leicht wie aus einem Traum, tot und doch lebendig, museal und doch so gegenwärtig.
Die bösen Töchter Goneril und Regan sind gestylte Miststücke in knallbunten Schuhen à la Imelda Marcos (Kostüme: Dorothee Curio), die andauernd Parfüm versprühen als sei es Desinfektionsmittel. Die gute Cordelia erinnert an Lady Di. Lear und Edgar verlieren mit ihren Hosen die Macht, aber nicht jede Würde, die Jacketts hängen voller Orden wie bei Kriegsveteranen. So erlaubt sich die Inszenierung sogar ein Quäntchen Humor, einen Kalauer am Anfang (wird nicht verraten), durch die Szene wandelnde und winkende Rüstungen, und am Schluss wieder eine Touristenführung mit Guide.
Großer, ja begeisterter Beifall für alle Mitwirkenden, keine einzige Einzelverbeugung!
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Hanna-Elisabeth Müller und Christian Gerhaher in Lear von Aribert Reimann an der Bayerischen Staatsoper | Foto (C) Wilfried Hösl
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Petra Herrmann - 24. Mai 2021 ID 12930
LEAR (Nationaltheater München, 23.05.2021)
Musikalische Leitung: Jukka-Pekka Saraste
Inszenierung: Christoph Marthaler
Mitarbeit Inszenierung: Joachim Rathke
Bühne: Anna Viebrock
Kostüme: Dorothee Curio
Licht: Michael Bauer
Chor: Stellario Fagone
Dramaturgie: Benedikt Stampfli und Malte Ubenauf
Besetzung:
König Lear ... Christian Gerhaher
König von Frankreich ... Edwin Crossley-Mercer
Herzog von Albany ... Ivan Ludlow
Herzog von Cornwall ... Jamez McCorkle
Graf von Kent ... Brenden Gunnell
Graf von Gloster ... Georg Nigl
Edgar ... Andrew Watts
Edmund ... Matthias Klink
Goneril, Tochter König Lears ... Angela Denoke
Regan, Tochter König Lears ... Ausrine Stundyte
Cordelia, Tochter König Lears ... Hanna-Elisabeth Müller
Narr ... Graham Valentine
Bedienter ... Dean Power
Ritter ... Marc Bodnar
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
Premiere an der Bayerischen Staatsoper war am 23. Mai 2021.
Weitere Termine: 26., 30.05. / 03., 07.06.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper.de/
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