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Premierenkritik

Ein Ereignis



Œdipe von George Enescu an der Komischen Oper Berlin | Foto (C) Monika Rittershaus

Bewertung:    



Barrie Kosky inszenierte in den letzten Monaten, trotz der Corona-Pandemie und den sie auslösenden beiden kulturellen Lockdowns, hocherstaunlich viel, das wenigste hiervon an "seinem" Haus (das war ja auch dann unerträglich lang geschlossen); via Internet entdeckten wir z.B. seinen irrsinnsschön gemachten Rosenkavalier an der Bayerischen Staatsoper, und ganz zuletzt wurde er am BE gefeiert, als er dort vor ein paar Wochen Die Dreigroschenoper auf die Bretter wuchtete!

Jetzt läutete "sein" bisher angestammtes Haus, die KOMISCHE OPER BERLIN, so eine Art von Kosky-Dämmerung ein, d.h. die gestern Abend mit George Enescus Œdipe (Regie: Evgeny Titov) begonnene Spielzeit wird natürlich ganz auf ihren "alten" Regisseur und Hausleiter geeicht sein, und ganz selbstverständlich wird es überwiegend ausgelassen und auch lustig zugehen, ganz ohne jede Trauer und obgleich mit einem schönen Rest Melancholie... Vier Kosky-Produktionen wird es geben, Brecht/ Weills Mahagonny, Offenbachs Orpheus in der Unterwelt (als Übernahme von den Salzburger Festspielen), Verdis Falstaff und eine zünftige Abschiedsrevue in jiddischer Sprache. Außerdem gibt es Inszenierungen von Jetske Mijnssen (Katja Kabanowa), Damiano Michieletto (Orfeo ed Euridice), Andreas Homoki (Schwanda, der Dudelsackpfeifer) sowie eine Kinderoper und zwei semiszenische Konzerte... und natürlich viele Wiederaufnahmen.



Ab 2022/23 wird das neu bestellten Ko-Intendantenpaar Susanne Moser & Philip Bröking sog. "Interimsspielzeiten" bestreiten, voraussichtlich fünf Jahre lang wird dann das Haus in der Behrenstraße grundsaniert und umgebaut; das Ensemble muss in dieser Zeit woanders in der Hauptstadt auftreten, bis dato war noch nicht abschließend klar, wo das dann sein würde; das für so Ausweichzwecke mittlerweile gut erprobte Schillertheater bietet sich fast zwangvoll an. Wir werden sehen.



Œdipe von George Enescu an der Komischen Oper Berlin | Foto (C) Monika Rittershaus


"Unausweichliche Prophezeiung: Aufgrund eines schrecklichen Orakelspruchs von seinen Eltern ausgesetzt, bei Pflegeeltern ohne das Wissen über seine wahre Herkunft aufgewachsen, stemmt sich Ödipus mit all seiner Kraft gegen das scheinbar ausweglose Schicksal und kann doch nicht anders, als eben dieses Schicksal zu erfüllen: Wie vom Orakel angekündigt, tötet er seinen (ihm unbekannten) Vater und schläft mit seiner Mutter. Als er schließlich die schreckliche Wahrheit erfährt, nimmt er sich selbst das Augenlicht. Doch seinem Schicksal entkommt er auch durch diesen gewaltsamen Akt der Selbstbestrafung nicht. Erst in der Erkenntnis, dass der ewige, sinnlos erscheinende Kampf gegen das Schicksal Ziel und Bestimmung des Lebens ist, findet Ödipus schließlich seinen Frieden."

(Quelle: komische-oper-berlin.de)

*

25 Jahre hat sich der rumänische Komponist George Enescu (1881-1955) Zeit gelassen für seine einzige Oper! Sie behandelt das schicksalhafte Leben des griechisch-mythologischen Ödipus und rahmt es - und vielleicht als eines von den selteneren Werken, die sich zu dem Thema jemals einließen - zwischen Geburt und Tod (besser: Tod und Verklärung) ein. Es ist also ein ganzheitlicher und geradliniger Abriss, und der Rezipient findet sich in und mit ihm gut zurecht, vorausgesetzt natürlich dass er des Französischen (Dichtung von Edmond Fleg) einigermaßen mächtig ist; ja und falls nicht, verfolgt er halt die an der Rückenlehne seines Vordersitzes mitlaufende deutsche Übersetzung...

Das Opus ist gewaltig und doch nicht gewalttätig. Die zwingende Musik Enescus hat eine gewisse Schwere, doch sie fließt und fließt und fließt; es tut daher nicht nur den Ohren gut, sich mit und in ihr einzufühlen. Ainārs Rubiķis, der Dirigent der Aufführung, legt sich mit voller Wucht in sie hinein und lebt und liebt und leidet sie aufs Glaubwürdigste - das Orchester der Komischen Oper Berlin klingt satt und weich und weiß mit den mitunter aufbrausenden Steigerungen oder gar Ekstasen unbesoffnermaßen umzugehen.

Nicht zuletzt ist Œdipe v.a. eine Choroper, ja und die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, ergänzt und unterstützt von dem nicht minder hochvorzüglichen Vocalconsort Berlin sowie dem hausinternen Kinderchor, scheinen sich diesen Abend selbst zu übertreffen. Ihre Positionen haben sie im 2. Rang des Hauses eingenommen, und David Cavelius koordiniert die Sängerinnen und Sänger von der Seitenlinie (gleiche Höhe freilich) aus. Genial!

Leigh Melros hat als Titelheld naturgegebnermaßen die wohl meiste Arbeit und wahrscheinlich auch die größte sängerische Anstrengung. Das leistet er bewundernswert und wird hierfür nach der Premiere, vollkommen zurecht, aufs Überschwänglichste gefeiert.

Ihm zur Seite imponieren Karolina Gumos (als Ödipus' Mutter-Gattin), Jens Larsen (als blinder Seher), Christoph Späth (als Ödipus' Vater), aber auch Johannes Dunz (als Hirte), Vazgen Gazaryan (als Hohepriester) oder Shavleg Armasi (als Sphinx).

Rufus Didwiszus' Riesenbühnenwände schüchtern ein und sind so trostlos dunkelgrau und abweisend, wie man sich wohl die Stimmung angesichts eines so trostlos dunkelgrauen und abweisenden Stücks Oper überhaupt nicht anders vorzustellen wagt. Der Regisseur lässt viel Theaterblut verspritzen und zig Eingeweide rausgehängt sein lassen; das sieht freilich nicht sehr appetitlich aus, aber er dachte sich vielleicht, so müsste es bei diesen griechisch-mythologischen Themata unbedingt dann sein.

Alles in allem:

Widerspruchslose Begeisterung, ja, auch von uns.

Ein Ereignis.


Andre Sokolowski - 30. August 2021
ID 13108
ŒDIPE (Komische Oper Berlin, 29.08.2021)
Musikalische Leitung: Ainārs Rubiķis
Inszenierung: Evgeny Titov
Bühnenbild: Rufus Didwiszus
Licht: Diego Leetz
Kostüme: Eva Dessecker
Dramaturgie: Ulrich Lenz
Chöre: David Cavelius
Besetzung:
Œdipe ... Leigh Melros
Tirésias ... Jens Larsen
Créon ... Joachim Goltz
Le grand prêtre ... Vazgen Gazaryan
Phorbas ... Shavleg Armasi
Le berger ... Johannes Dunz
Laios, Vater des Œdipe ... Christoph Späth
Jokaste, Mutter des Œdipe ... Karolina Gumos
La Sphinge ... Katarina Bradić
Antigone ... Mirka Wagner
Vocalconsort Berlin
Kinderchor, Chorsolisten und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 29. August 2021.
Weitere Termine: 02., 07., 11., 26.09.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.komische-oper-berlin.de/


http://www.andre-sokolowski.de

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