Wer keine Zeit
verlieren kann,
dem geht sie
aus!
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Anna Woll als Momo am Staatstheater am Gärtnerplatz | Foto (C) Christian POGO Zach
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Bewertung:
Zeit ist Geld. Jawoll. Das kennen wir - von vielen den grauen Männchen, die auch durch unsere Welt hetzen: Arbeitsverdichtung. Coffee to go. Instant service. Es kann uns nicht schnell genug gehen.
Dabei bleibt so manches auf der Strecke. Das wusste Michael Ende schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und erfand Momo, das Mädchen, das die Welt besser macht. Nicht, weil es etwas Besonderes ist. Sondern weil es zuhören kann. Momo, das Waisenkind, das in einem verfallenen Amphitheater in Italien lebt, gewinnt die Menschen für sich, weil es das Schönste in ihnen zum Klingen bringt, ihre echten Gefühle, ihre Träume. Auch der stumme Singvogel trällert wieder, wenn Momo sich um ihn kümmert.
Den Herren von der Zeitsparkasse ist Momo natürlich ein Dorn im Auge. Ein Bestechungsversuch mit einer autistischen rosa Barbiepuppe (großartig als Bibigirl: Caroline Adler), mit der man nicht spielen kann, geht schief. Nun soll Momo vernichtet werden. Denn sie gefährdet die Weltherrschaft der Zeitsparer, die in ihren grauen Anzügen steif über die Bühne staksen - mit weiß geschminkten Gesichtern unter grauen Melonen. Ihre kahlen Köpfe werden durch einen Leuchtkragen von unten angeleuchtet mit unheimlichem, eisigem Licht: kalte menschliche Glühbirnen. Bevor jedoch Momos Freunde in all der Hetze ihre Lebensfreude verlieren, nimmt Momo den Kampf auf. Denn sie hat einen Beschützer, Meister Hora, der die Zeit stillstehen lässt, wenn es sein muss, eine kluge Helferin, die Schildkröte Kassiopeia und eine wundersame Zeitblume, ihre ureigene Herzenszeit. Damit schneidet Momo die grauen Herren von den Zeitvorräten ab. Sie haben sie der Menschheit gestohlen, um sich von ihnen zu ernähren. Doch die grausamen Zeitsparer lösen sich im Rauch ihrer Zigarren auf. Ende gut, alles gut.
*
Eine sattsam bekannte Geschichte. Und doch fügt Wilfried Hillers großartige Musik Neues hinzu, nie anbiedernd an vermeintliche Kindlichkeit, ohne Sentimentalität und allzu harmonischen Wohlklang. Wilfried Hiller, der Star der deutschen (Kinder-)Oper - Das Traumfresserchen oder Tranquilla Trampeltreu, die beharrliche Schildkrötei oder Der Goggolori - hat viele Jahre mit Michael Ende zusammengearbeitet. Wie Ende trennt er nicht zwischen Musik, bzw. Text für Kinder und Erwachsene. Und er bleibt ganz nahe an Michael Endes eigenen musikalischen Ideen, der frühere, gefälligere Vertonungen seines Erfolgsromans (Jugendliteraturpreis 1974) ablehnte. Da wäre zu nennen die musikalische Interpretation von Momos Freund, dem Fremdenführer Gigi, der zum berühmten, aber unglücklichen Schlagersänger wird, ein Selbstporträt Endes (großartig: Maximilian Mayer). Ihm gibt Hiller Melodien, die der Autor selbst erfunden hat. So erklärt sich auch, dass Hiller die Hauptfigur Momo nicht singen lässt. Eben weil sie „bloß“ Zuhörerin sein soll. Deshalb hat die Figur der Momo (zart: Anna Woll) lediglich Text, kein musikalisches Motiv, dafür aber ein blassbuntes Kostüm. Leider gewinnt ausgerechnet die Hauptfigur dadurch wenig persönliche Ausstrahlung - vielleicht ein Problem der ansonsten gelungenen Inszenierung von Nicole Claudia Weber, der kein Dreh einfiel, um Momo mehr Bühnenpräsenz zu verleihen. Schade.
Wunderbar „echte“ Hiller-Motive sind dagegen bei vielen anderen Figuren zu hören, etwa bei der Schildkröte, deren Noten vom Sternbild der Kassiopeia abgeschaut wurden. Ihre schriftlichen Botschaften - akustische Morsezeichen! Und erst die grauen Herren! Zum Fürchten schrill vom höchsten Sopran bis zum tiefsten Bass.
Die schwierigste (weil merkwürdig undefinierbare) Figur bleibt Meister Hora. Ist er Gott, der Tod, Konfuzius? Jedenfalls verändert er sich ständig, wirkt mal alt, mal jung, mal zittrig, mal akrobatisch, mal albern, mal weise... das jedoch original Michael Ende. Hiller hat Hora deshalb ein asiatisches Motiv verliehen und von einem ganzen Chor singen lassen. Das mag alles im Sinne des Autors sein und logisch richtig gedacht. Dramaturgisch zu überzeugen vermag die Interpretation des Meisters jedoch wenig.
Im Ganzen aber eine zauberhafte, kurzweilige, runde Sache. Zwei Stunden, von denen keine Minute langweilt. Hohe Kunst der Einfachheit - auch auf der Bühne. Sie wandelt sich von der Ruine zum kosmischen Uhrwerk. Inspirierte Darsteller, tolle Sänger. Das Publikum von jung bis alt war dankbar und begeistert.
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Momo am Staatstheater am Gärtnerplatz | Foto (C) Christian POGO Zach
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Petra Herrmann - 18. Dezember 2018 ID 11106
MOMO (Gärtnerplatztheater, 17.12.2018)
Musikalische Leitung: Michael Brandstätter
Regie: Nicole Claudia Weber
Bühne: Karl Fehringer und Judith Leikauf
Kostüme: Tanja Hofmann
Choreografie: Roberta Pisu
Video: Meike Ebert und Raphael Kurig
Licht: Michael Heidinger
Dramaturgie: Michael Alexander Rinz
Besetzung:
Momo ... Anna Woll
Gigi, Fremdenführer ... Maximilian Mayer
Beppo, Straßenkehrer ... Holger Ohlmann
Erster Grauer Herr ... Ilia Staple
Zweiter Grauer Herr ... Valentina Stadler
Dritter Grauer Herr ... Ann-Katrin Naidu / Anna-Katharina Tonauer
Vierter Grauer Herr ... Alexandros Tsilogiannis
Fünfter Grauer Herr ... Stefan Bischoff
Sechster Grauer Herr ... Timos Sirlantzis
Siebter Grauer Herr ... Martin Hausberg
Meister Hora ... Matteo Carvone
Herr Fusi, Friseur .... Frank Berg
Nicola, Maurer ... David Špaňhel
Bibigirl ... Caroline Adler
Erstes Traumgirl ... Elaine Ortiz Arandes
Zweites Traumgirl / Frau ... Frances Lucey
Drittes Traumgirl / Fräulein Daria ... Gerwita Hees
Kassiopeia ... Ina Bures
Nino, Wirt ... Yegor Pogorilyy
Herr Fusis Lehrbub ... Kilian Bohnensack, Benjamin Weygand
Junge mit dem Vogelkäfig ... Benjamin Ogier, Clemens von Bechtolsheim
Weitere graue Herren: Marco Montoya, Martin Emmerling und Christian Weindl
Chor und Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Uraufführung war am 16. Dezember 2018.
Weitere Termine: 20., 21., 28.12.2018 // 03., 04., 09., 10., 18.01.2019
Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Weitere Infos siehe auch: https://www.gaertnerplatztheater.de
Post an Petra Herrmann
petra-herrmann-kunst.de
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