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LUDWIGSBURG FESTIVAL 2023

Ein Vollmond für

die Badenden



Bewertung:    



Alle paar Jahre wird der Mechanismus in Bewegung gesetzt, und stets ruft er die erwünschte Wirkung hervor: das Aufsehen durch Schock, durch Verstoß gegen die gerade geltenden Regeln von Anstand, Ästhetik und „gutem Geschmack“. Das war bei Antonin Artaud so, bei Hermann Nitsch, bei La Fura dels Baus. Meist legt sich die Aufregung nach einiger Zeit, in manchen Fällen, etwa bei Hermann Nitsch, schlägt sie um in maßlose, auch profitable Zustimmung. Gegenwärtig bemüht die Choreografin Florentina Holzinger das bewährte Erfolgsrezept, und wer beweisen will, dass er auf der Höhe der Zeit ist, hebt ihre Arbeiten in die Höhen, in denen ihre „Tänzerinnen“ an Fleischerhaken hängen. Warten wir’s ab, wie lange die Attraktionen von Florentina Holzinger halten. Vorerst haben sie ihr immerhin zu einem Platz im Schatten von René Pollesch verholfen.

*

Und dann sieht man das Stück Vollmond von Pina Bausch, das immerhin 17 Jahre auf dem Buckel hat, frei ist von Provokation um ihrer selbst willen und dafür gnadenlos schön, und das die Frage nach der Aktualität belanglos erscheinen lässt.

Auf der Bühne steht, von Pina Bauschs legendärem Partner Peter Pabst entworfen, ein riesiger Felsbrocken. Das war’s. Den Rest besorgt die raffinierte Lichtregie. Der Abend besteht aus lauter kurzen unverbundenen „Nummern“ wie im Varieté, das der russische Formalist Viktor Šklovskij schon vor einem Jahrhundert das „Lebendigste in der zeitgenössischen Kunst“ genannt hat. In einer Zeit, in der das Modewort „Narrativ“ inflationär die Kommunikation verschmutzt, hält Pina Bauschs Tanztheater die bedrohte Tradition von Dada und Surrealismus hoch. Dazu tragen auch die gesprochenen Fragmente bei, die dem „stummen“ Ballett fremd waren. Grundverfahren ist bei Pina Bausch die Wiederholung, deren Regelmäßigkeit nur schwer zu ermitteln ist. Immer wieder geht es um Werben, Verfolgen, Fliehen, und zwar mit viel Witz, der so gar nicht zum ernsten, nach innen gekehrten Gesichtsausdruck passt, den man von den Porträts der genialen Choreografin kennt.

Ein Vollmond ist in Vollmond nicht zu sehen, dafür eine Unmenge Wasser, die aus dem Schnürboden herabregnet, als Gischt gegen den Felsen prallt oder im Hintergrund auf der Bühne fließt. Darin rutschen, gleiten, ja schwimmen die Tänzer*innen, damit spritzen sie umher und kreieren fantastische Bilder. Hätten sie einen Regenschirm bei sich, würde man an Gene Kelly denken und an Dancing in the Rain. Auf dem Boden und auf Stühlen sitzend, zerstäuben sie in einer für Pina Bausch typischen „Reihe“ die Wasserreste.

Das Finale nimmt die einzelnen Figuren und Konstellationen noch einmal auf wie ein Register, ehe das Publikum im ausverkauften Forum am Schlosspark in Jubel ausbricht.

Die Damen und Herren aus aller Welt tanzen, kennzeichnend für Pina Bausch, barfuß, mit flachen Schuhen oder mit hohen Absätzen, aber nicht mit Schläppchen oder gar mit Spitzenschuhen. Fleischerhaken benötigen sie nicht und auch keine Hubschrauber.



Vollmond von Pina Bausch im Forum Ludwigsburg | Foto (C) Reiner Pfisterer

Thomas Rothschild – 11. Juni 2023
ID 14244
VOLLMOND (Forum am Schlosspark Ludwigsburg, 10.06.2023)
Choreografie: Pina Bausch
Bühne: Peter Pabst
Mitarbeit Kostüme: Marion Cito
Musikalische Mitarbeit: Matthias Burkert und Andreas Eisenschneider
Probenleitung: Daphnis Kokkinos und Robert Sturm
Tanztheater Wuppertal Pina Bausch:
Dean Biosca, Taylor Drury, Silvia Farias Heredia, Ditta Miranda Jasjfi, Alexander Lopéz Guerra, Nicholas Losada, Milan Nowoitnick Kampfer, Ekaterina Shushakova, Azusa Seyama-Prioville, Julie Anne Stanzak, Michael Strecker/Reginald Lefebvre, Christopher Tandy und Tsai-Chin Yu


Weitere Infos siehe auch: https://schlossfestspiele.de


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