Fatma
Aydemirs
türkische
Familiensaga
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Foto (C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
Dschinns sind in Fatma Aydemirs gleichnamigen 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiertem Roman unsichtbare Geister der Vergangenheit, die unausgesprochenen Geheimnisse, die eine türkisch-kurdische Familie seit Anfang den 1970er Jahre in Deutschland plagen. Regisseur Nurkan Erpulat hat den langen und vielschichtigen, über dreißig Jahre Familiengeschichte aufarbeitenden Roman nun am Maxim Gorki Theater inszeniert. Es beginnt Ende der 1990er Jahre in einer Wohnung in Istanbul. Der 59jährige Familienvater Hüseyin hat sein Leben lang in einer Fabrik in Deutschland gearbeitet und leistet sich nun für den vorgezogenen Ruhestand eine Eigentumswohnung in der Stadt seiner frühen Träume. Leider stirbt er just in diesem Moment an einem Herzinfarkt, was die aus verschiedenen Gründen nicht mehr zusammen lebende Familie wieder zusammenführt und Ausgangspunkt für eine Abrechnung der Kinder mit den Eltern insbesondere der Mutter Emine ist.
Vor der von Gitti Scherer gestalteten weißen Wohnungswand spielt das gesamte Schauspiel-Ensemble in ebenfalls weißen Anzügen diese Eingangsszene. Der Text spricht in zweiter Person mit dem Vater Hüseyin, der am Ziel seiner Träume plötzlich unerwartet um sein Leben ringt. Dazu singt Anthony Hüseyin, ein*e nicht-binäre*r Singer-Songwriter*in, ein ergreifendes Lied in türkischer Sprache. Diese Songs begleiten den gesamten Abend und geben ihm eine besondere emotionale Note. Anthony Hüseyin bleibt dabei im weißen Anzug immer anwesend, spielt auch den ebenfalls nicht-binären verlorenen ersten Sohn von Emine und Hüseyin, Ciwan. Emine musste als junge Frau das Baby an den kinderlosen Bruder Hüseyins abgeben. Bezeichnet hat sie ihn immer nur als "o", das türkische Wort für er/sie/es. Eine Anspielung auf die Geschlechtslosigkeit der Pronomen im Türkischen. Eines der vielen Themen des Romans neben dem Rassismus in Deutschland sowie den strengen türkischen Traditionen und Geschlechterrollen, unter denen die Familienmitglieder leiden.
Wie im Roman, der in 6 Kapiteln mit vielen zeitlichen Rücksprüngen arbeitet, handelt auch die Inszenierung die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder nacheinander ab. Der jüngste Sohn Ümit (Doğa Gürer) kommt mit Mutter Emine (Melek Erenay) und Schwester Peri (Aysima Ergün) in Istanbul an und kann den Tod des Vaters nicht verstehen. Die Inszenierung streicht sein Leben recht kurz. So erfährt man nur kurz von den Versuchen seines Fußballtrainers ihn wegen seiner Homosexualität zu einen Psychologen zu schicken, von dem Ümit Medikamente erhält. Der Geschichte der ältesten Tochter Sevda (Çiğdem Teke), die als Kind zunächst in der Türkei zurückbleiben musste, gibt die Inszenierung mehr Raum und auch die lustigsten Szenen, bei die anderen Sevdas Großmutter und Bekannte aus dem Dorf sowie ihren späteren Mann Ishan spielen.
Sevda hatte am Ende am meisten unter den Eltern zu leiden. Zunächst lebt sie in den 1980er frisch in Deutschland angekommen noch mit ihrer neuen Freundin Havva (Aysima Ergün) zu Take On Me von A-ha auf. Erst spät kann sie sich durch einen eigenen Job von ihrem Ehemann emanzipieren. Auch der ältere Sohn Hakan (Taner Şahintürk) hat Probleme mit der fehlenden Anerkennung seines Vaters. Tochter Peri geht zum Studium nach Frankfurt, wo sie irgendwann Ciwan kennen lernt, ohne zu wissen, dass es ihr Bruder ist. Ciwan organisiert sich politisch und bringt Peri ihre kurdische Abstammung näher. Es entwickelt sich eine innige Freundschaft, die Peri hier recht ungelenk gerne vertiefen würde, was letztlich abrupt daran scheitert, dass Ciwan sich als trans outet.
Zuwenig Liebe ist dann auch das Hauptproblem, an dem hier alle mehr oder weniger leiden. Das kulminiert in einer großen Anklage Sevdas an die Mutter, nicht für sie da gewesen zu sein, als sie sie brauchte, sie verraten zu haben für irgendwelche Traditionen. Das darauf im Roman folgende Erdbeben bekommt in der momentanen Realität natürlich einen ganz anderen Beigeschmack, den Regisseur Erpulat einfach durch das Aufschweben aller Möbel in den Schnürboden auflöst. Eines zusätzlichen Bebens bedarf diese über zwei Stunden sehr intensive und starke Inszenierung eh kaum.
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Stefan Bock - 19. Februar 2023 ID 14054
DSCHINNS (Maxim Gorki Theater, 18.02.2023)
von Fatma Aydemir
Regie: Nurkan Erpulat
Bühne: Gitti Scherer
Kostüme: Turgut Kocaman
Musik: Anthony Hüseyin
Post Produktion Sound: Matthias Anton
Lichtdesign: Ernst Schießl
Dramaturgie: Johannes Kirsten
Choreografie Assistenz: Sofia Pintzou
Mit: Melek Erenay, Aysima Ergün, Doğa Gürer, Taner Şahintürk, Çiğdem Teke und Anthony Hüseyin
Premiere war am 17. Februar 2023.
Weitere Termine: 06., 21.03.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de
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