Requiemartiges Stück über eine
nach dem perfekten Bild
jagende Kriegsfotografin
DIE SEHERIN von Milo Rau
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Bewertung:
Milo Rau, seit 2023 Intendant der Wiener Festwochen, hat seine neueste Produktion mit Schaubühnendarstellerin Ursina Lardi zum Spielzeitauftakt ins Haus am Lehniner Platz mitgebracht. Die Premiere von Die Seherin in Wien Anfang Juni zog gemischte Kritiken nach sich. Im kleinen Globe an der Berliner Schaubühne sitzt man nun in einer sehr dichten, intimen Atmosphäre um die von Anton Lukas mit Sand, Müll und Autoreifen ausgestattete kleine Bühne, an deren schmaler Rampe zum Publikum Ursina Lardi zu Beginn noch ein paar Scheinwerfer platziert. Im Hintergrund wird auf einen großen Screen ein Video mit dem zweiten Darsteller, dem irakischen Lehrer Azad Hassan projiziert. Er wird im Laufe des Abends immer wieder seine Leidens-Geschichte aus dem 2014 vom IS besetzten Mossul erzählen, während live davor Ursina Lardi den Monolog einer von den Bildern der Gewalt an allen möglichen Krisengebieten der Welt faszinierten Kriegsfotografin hält.
Sehr konzentriert trägt Ursina Lardi die Lebensgeschichte der Fotografin vor, die bereits als Kind fasziniert ist von einem Foto, das die Hinrichtung von Menschen im japanisch-chinesischen Krieg zeigt. Später spielt sie als Mädchen die Rolle des Neoptolemos im Stück Philoktet von Sophokles. Milo Rau durchsetzt seinen Text mit Auszügen aus der antiken Tragödie um den Bogenschützen, den die Griechen auf der Fahrt nach Troja verletzt auf einer Insel zurücklassen. Lardi schneidet sich mit einem Skalpell ins Bein und verbindet es. Verglichen mit der Verletzung, die Azad Hassan durch die Scharia-Schergen des IS erfahren musste, ist das eher wenig. Hassan und seinem Bruder wurde auf einem belebten Platz in Mossul die Hand abgehackt. Wir erfahren nach und nach, wie es dazu kam.
Rau setzt die beiden Geschichten hart nebeneinander. Immer wieder erklingt dazu das getragene Agnus Dei aus der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Allzu pathetisch wird es aber nie. Lardi berichtet als Kriegsfotografin von ihren Einsätzen in verschiedenen Kriegsgebieten in Albanien, Afrika und dem Irak. Immer ist sie auf der Suche nach dem perfekten Bild, fühlt sich bald schon als Kassandra, die weiß, wo die nächste Bombe einschlägt. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo wird sie schließlich angegriffen und vergewaltigt, kann nachts nicht mehr schlafen und begibt sich trotzdem wieder in die Gefahr. Aus der einst berechnenden Zynikerin, die die Besonderheit ihrer Fotos preist, spricht irgendwann nur noch die Verbitterung einer einsamen Frau. Hoffnung in diesem endlos wirkenden Karussell der Gewalt bringt nur die Erzählung Azad Hassans, der nach der Befreiung vom IS Lehrer geworden ist.
Der gespielte Dialog zwischen Live-Szene und gedrehtem Video funktioniert relativ gut. Mit großem Rechercheaufwand geht Milo Rau dahin, wo es anfangen könnte, weh zu tun, ohne die Gewalt extra zu bebildern. Etwas auf der Strecke bleibt dabei die eigentliche Intension Raus: die Erklärung für die Faszination der Menschen für die Gewalt sowie deren Darstellung in der Kunst und den Medien, die mit ihren Bildern, ob nun in historischen Gemälden, in der Fotografie oder dem täglichen Bewegtbild in den Nachrichtensendungen immer wieder zwischen Realität und manipulativer Ästhetik, Rationalität und Emotion schwanken. Wie auch an diesem eher nüchternen Abend. Nachdenklich macht das schon.
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Die Seherin von Milo Rau - mit Ursina Lardi und Auzad Hassan (im Video) | Foto (C) Nurith Wagner-Strauss
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Stefan Bock - 24. September 2025 ID 15475
DIE SEHERIN (Globe, 23.09.2025)
von Milo Rau
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas
Sounddesign: Elia Rediger
Video: Moritz von Dungern
Dramaturgie: Bettina Ehrlich und Carmen Hornbostel
Licht: Erich Schneider
Mit: Ursina Lardi und Azad Hassan (im Video)
UA bei den Wiener Festwochen: 5. Juni 2025
Berliner Premiere: 19. September 2025
Weitere Termine: 03.-06.10.2025
Koproduktion der Wiener Festwochen mit der Schaubühne Berlin und La Biennale di Venezia
Weitere Infos siehe auch: https://www.schaubuehne.de/de/
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