Für und wider
der Vorbilder
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Riccardo Ferreira, Imke Siebert, Jacob Z. Eckstein, Max Wagner (v.l.n.r.) in Archetopia am Theater Bonn | Foto © Bettina Stöß
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Bewertung:
Die Wahlergebnisse für die AfD bei der jüngsten Europawahl deuten es an: Wenn eine demokratische Kultur versagt, gewinnen die Populisten. Doch eine Welt aus „Me first“-Egoisten funktioniert nicht dauerhaft. Simon Solberg lässt in seinem neuen Stück selbstvergessene Neureiche im Ballsaal einer Luxusyacht unter feierlichem Kronleuchter-Schimmern ausgelassen sein. Eine vermeintlich verrohende Gesellschaft konfrontiert sich hier bald mit einem ambitionierten Reigen aus gesellschaftspolitischen Utopien früherer und heutiger Denker.
Der Beginn von Archetopia, für das der Hausregisseur auch selbst das Bühnenbild am Theater Bonn besorgte, ist noch unterhaltsam-leichtfüßig. Die fünf jungen Akteure singen und tanzen zu einem wilden Wohlfühl-Medley aus „Freed from Desire“ von Gala, „Wannabe“ von den Spice Girls, „I like to move it“ von Reel to Real u.a.. Im Bühnenhintergrund ist dezent eine dreiköpfige Band platziert, welche die passende Musik zur Party-Atmosphäre auf der Bühne besorgt [Namen s.u.]. Der Schwung ausgelassener Tanzbewegungen und vokal akzentuierter Rhythmen ebbt alsbald ab. Wir erfahren, dass die Figuren sich auf einem Schiff befinden, das plötzlich innehält. Mit der Auflösung der Abendgesellschaft gehen bei den Figuren auch unheilvolle Gedanken einher, etwa an einen nicht nur persönlichen sondern allgemein-gesellschaftlichen Schiffsbruch und Untergang. Gibt es Antworten auf heutige gesellschaftliche Herausforderungen, wie Russlands Angriffskrieg, die zunehmende soziale Spaltung, die Klima- oder die Demokratiekrise?
Auf Fensterluken im oberen Bühnenbereich sind Bildmontagen fixiert, die Berühmtheiten wie Oscar Wilde nachstellen. Diese werden abgerissen oder fallen herunter. Eine Figur zeigt sich sodann in der Luke kostümiert als Wiedergänger des Porträtierten. Sie scheint inspiriert von möglichen Gedankenwelten des bekannten Vorbildes von einst. Die Akteure wechseln sich mit der Wiedergabe von gesellschaftspolitischen Gedankenutopien früherer Vordenker ab. Leider wird nun nur noch wenig interagiert, denn die übrigen hören erst einmal aufmerksam zu. Widerworte werden alsbald laut. Die Umstehenden fokussieren Schwächen der Theorie und eine oder einer postuliert einen neuen, anderer Gedankenstrom nach Vorbild einer anderen Theorie, die sodann neu verworfen wird. Ideen aus Gesellschaftstheorien werden ähnlich beliebig, konfus und in zu kurz greifenden Auszügen vorgetragen, so wie eingangs die Schlager der 90er zitiert wurden.
Ein Gedankenkonstrukt und eine Theorie jagt die nächste. Dabei sind die schnell vorgetragenen Ideen nicht zeitlich chronologisch geordnet, und einige Utopie-Entwürfe werden mehrfach thematisiert. Teilweise werden an den Bühnenseiten Namen und Bildporträts zu den Gesellschaftstheoretikern projiziert, diese plötzlichen Einblendungen sind jedoch für die weiter vorne mittig Platzierten nur schwer wahrnehmbar. Es treten Gedanken von Jean-Jacques Rousseau neben jene von Voltaire. Es ist vom Ende des Kapitalismus die Rede – „ewiges Wachstum hat ausgedient“ ruft eine der Figuren auf der Bühne aus – und wir denken an das hellsichtige, leichter zugängliche Werk der Bestsellerautorin Ulrike Herrmann. Im gleichen Atemzug äußert sodann Elon Musk (Max Wagner) seine Idee von menschlichem Leben auf einem anderen Planeten.
Garniert wird das chaotische Geschehen mit geschmackvoll vorgetragenen Reminiszenzen auf Pop-Songs. Riccardo Ferreira singt ausdrucksstark den Refrain von „Desert Rose“ von Sting. Das Ensemble versucht sich aber auch an „Fix You“ von Coldplay. Auch Verse vom deutsch-amerikanischen Rapper Casper werden von den Akteuren zitiert, neben der bekannten Choreographie vom Las Ketchup-Song aus dem Jahr 2002.
Eine der schönsten, in der Aufführung thematisierten Utopien ist jene von der Stadt der Frauen der Französin Christine de Pizan aus dem Jahre 1405. Le Livre de la Cité des Dames gilt als erste bedeutende, literarische Utopie von einem, ausschließlich Frauen zugeordneten, allegorischen Zufluchtsort, wobei Christines Werk zu ihrer Zeit noch nicht als Utopie bezeichnet wurde. Christine kritisiert am Beispiel des alternativen, für den Eintritt von Männern nicht vorgesehenen Lebensraums, die durch männliche Schriftsteller postulierte, angebliche ethische Minderwertigkeit der Frau als Geschichtsverfälschung. Während Julia Kathinka Philippi und Imke Siebert Inhalte dieser Utopie skizzieren, singen und tänzeln sie ausgelassen zu „Survivor“ von Destiny’s Child.
Leider wird auch Christines Utopie so nur sehr oberflächlich betrachtet.
Appelle werben bald für tiefgreifende Gesellschaftserneuerung anderer Denker, ohne jedoch eine Richtung vorzugeben. Die Figuren widmen ihre utopische Perspektive mal einen herrschaftsfreien Umgang mit der Natur, um den Blick dann auf eine Authentizität der sinnlichen Wahrnehmung zu lenken. Immer wieder schimmern interessante Gedanken durch, etwa dass früher eine künftige Bedeutung von Pferden, Autos, Fernsehern oder Computern von führenden Denkern für die Gesellschaft völlig falsch eingeschätzt wurde. Leider sind einige Stückideen auch allzu platt, wenn etwa der attraktive Jakob Z. Eckstein das Wort „Sex“ als einen verbalen Tic zwanghaft schüchtern in Dauerabfolge ausrufen muss. Solbergs Figuren denken immerhin schließlich darüber nach, dass die Unmöglichkeit des Erreichens eines angestrebten Nichtorts zentrale Denkfigur der Utopie und gesellschaftlicher Utopiebildung ist.
So erscheint schlussendlich das Anliegen von Archetopia ein bisschen offen, unschlüssig und wohlfeil. Ein während der Vorführung eindrücklich hervorgehobenes Bühnenaccessoire mutet immerhin nachhaltig an. So wurden Julia Kathinka Philippis gegen Ende dargebotenen, enorm großen schwarzen Flügel bereits 2017, nicht minder effektvoll, von Laura Sundermann in der Rolle des Luftgeistes Ariel in einer Inszenierung von Shakespeares Der Sturm stimmungsvoll ausgebreitet und emporgehoben.
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Julia Kathinka Philippi und Ensemble in Archetopia am Theater Bonn | Foto © Bettina Stöß
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Ansgar Skoda - 13. Juni 2024 ID 14796
ARCHETOPIA (Schauspielhaus Bad Godesberg, 08.06.2024)
von Simon Solberg
Regie und Bühne: Simon Solberg
Kostüme: Ines Burisch
Licht: Thomas Tarnogorski
Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Mit: Julia Kathinka Philippi, Imke Siebert, Jacob Z. Eckstein, Riccardo Ferreira, Max Wagner und den Live-Musikern Jan Günther, Philip Mancarella und Nico Stallmann
UA am Theater Bonn: 11. Mai 2024
Weiterer Termin: 30.06.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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